Kolumnen/chaos DE LUXE

Peinlichkeits-Bereitschaft

Warum nur Fremdschämen, wenn man sich auch selbst schämen kann?
Ja, es gibt sie, die Momente, in denen ich gerne über mich sagen würde:
„Die da? Nein, diese Frau kenn' ich nicht.“ Es sind jene Augenblicke, wo auf „Superfly“ „Le Freak“ gespielt wird, ich das Autoradio volle Kanone aufdrehe und gesetzten Ausdruckstanz betreibe. Und das mitten im Stau. Ich finde leider auch Clint Eastwood in den frühen Sergio-Leone-Filmen richtig heiß, besonders wenn er die Ganoven mit dem Satz „Mein Esel will, dass ihr euch bei ihm entschuldigt“ zur Räson pfeift. Ursupervollpeinlich auch, wenn ich bei diesem Supermarkt-Spot bereits in Minute 2 zu flennen beginne – wenn der Opa alleine unter dem Weihnachtsbaum sitzt, während seine Fortpflänze sich nicht mehr um ihn scheren. Erdspalten-Versink-Momente auch jene, in denen ich eine Packung Gummibärchen verdrücke, obwohl ich bereits beim fünften Tier weiß, dass die wie Zement in mir liegen werden und mein Selbsthass die Angelegenheit zusätzlich erschweren wird. Und niemand, aber wirklich niemand soll mich sehen, wenn ich Sturzlawinen in die handgeschriebene Rezeptmappe meiner schon lange abwesenden Oma heule, und ich es auch heuer nicht fertig bringen werde, ihre Anisplätzchen nachzubacken. Damit wir aber jetzt nicht alle losheulen, noch was für Sie zum Fremdschämen: Ich glaube manchmal minutenlang an Tarot-Prognosen, tagelang an die erderschütternde Liebe mit dem Wir-sind-füreinander-bestimmt-Kram, und, wenn es um was geht, stecke ich mir den kleinen schwarzen Lackschuh meiner damals vierjährigen Tochter als Glücksbringer in die Handtasche. Und ja, ich stehe zu den Rosamunde-Pilcher-Anteilen in meiner peinlichkeitsbereiten Seele. Es ist ein schmutziger Job, aber es findet sich sonst keiner dafür.

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