Meinung/Kolumnen/chaos DE LUXE

Kleine Psychodrama-Sessions

Das Leben ist eben mehr Simpsons als Waltons.

Polly Adler
über Tauchgänge in die Vergangenheit

Meine WG-Kumpanin ist ein Struktur-Feldwebel und findet, dass es langsam Zeit wird, Fotoalben anzulegen. Am liebsten würde das Kind die Gewürze nach Ablaufdaten ordnen. So eine ist die – ihre Form der Rebellion gegen das Chaos von Muddi.
Also wühlen wir uns durch die Kisten.
Oh Gott, der kleine Buddha, den mein damals 21-jähriger und verdammt gut aussehender Vater im Arm hält, bin ich! Meine Mutter trug die Haare à la Liza Minnelli und Kleider aus finnischen Vorhangstoffen. Sie war direkt von der Kunstakademie in ihre Schwangerschaft geschlittert. Dann war Schluss mit Rock’n’Roll. Danke, Mama, dass du dich für mich entschieden hast. Das Kind findet, dass ich auf dem Spital-Foto, wo ich es frisch geschlüpft im Arm halte, ruhig ein bisschen glücklicher hätte aussehen können. „Du bist lustig, ich hatte Verantwortungspanik“, erkläre ich ihr. „Ich armer kleiner Wurm“, kreischt es, „in diese grausame Welt geschleudert, an den Busen einer Mutter mit Verantwortungspanik.“ Viele Bilder, auf denen der drollige Wurm mit seinen Eltern posiert. Als das Fortpflänzchen zwei war, war Schluss mit der trügerischen Idylle.
„Ich hätte so gerne eine Apfelkuchen-Familie mit vielen Geschwistern gehabt. Dass ich bei all deiner Dysfunktionalität heute wie ein Leuchtturm im Leben stehe, grenzt eigentlich an ein Wunder.“ – „Das Leben ist eben mehr Simpsons als Waltons.“
Der Gag läuft ins Nirvana, weil das Kind die Farm-Mischpoche rund um John-Boy („Gute Nacht, Pferd, gute Nacht, liebe Kuh“) gar nicht kennt. „Die Art, wie du aufgewachsen bist, hat dich situationselastisch, adaptionsfähig und konfliktaustragungsflott gemacht. Du solltest mir eigentlich dankbar sein für dieses psychische Waffenarsenal.“ Das Kind rollt mit den Augen: „Mama, chill deine Base. Wir wollten doch nur Fotos ordnen und keine Psychodrama-Session veranstalten.“

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