„Du halblustiges Weichei!”
Von Polly Adler
Du halblustiges Weichei!
Wie ein Unfall den Charakter frei legt.
Nach eineinhalb Jahren Abstinenz war ich wieder rückfällig geworden. Scheiß-Augenmaß! Als dieses Quietschen, das bei aneinander reibenden Blechflächen auftritt, mir die Ohren zerschnitt, sah ich sie vor mir: die enttäuschten Augen meines Versicherungs-Mannes, der angesichts meiner Schadens-Biografie einmal geseufzt hatte: „Es gibt Malus-Stufen und es gibt die Stufe Adler ...“
Doch schon hatte ich ganz andere Sorgen, denn ein blondes Geschoß mit Airbags wie für eine Limousine, klopfte mit ihren gelgelackten Krallen an mein Fenster: „Sog amol, bist du wo angrennt, Depperte? Des is a neuer A3, hast du des verstanden, a A3?“ Ich ließ die Scheibe nur zwei Millimeter hinunter und flüsterte: „Na, wenn’s nur ein Opel Kadett gewesen wär, hätt ich mir die Mühe sicher nicht gemacht ...“ Schnappatmung bei Missis Airbag. „Unnötig frech“ ist mein zweiter Vorname, ich sammelte mich also: „Es tut mir sehr leid, ich verstehe Ihren Ärger ...“ Gellender Schrei: „Babe, kumm sofort her ... hilf mir mit der Irren.“
Aus dem Gefährt schälte sich ein Vokuhila- Deckhengst. Im Kontrast zu seiner imposanten Erscheinung besaß er ein sanftmütiges Auftreten: „Geh, Sweetie, chill dich, ist ja alles kein Drama ...“ Sie: „Du wirst mir sicher net vorschreiben, ob i mi jetzt aufreg oder net, du halblustiges Weichei.“
In seinem Blick spiegelte sich entsetztes Erstaunen ob der Verhaltensoriginalität seiner offensichtlich noch nahezu frischen Gefährtin. Wahrscheinlich hatte das Sweetie bislang nur ihre Schokoladenseiten hergezeigt, ein Schaulaufen an Liebenswürdigkeit veranstaltet und die Abgründe ihrer Psyche schalldicht gemacht. Während sie zeternd nach einem Unfallbericht kramte, flüsterte ich dem friedfertigen Riesen zu: „Geld, Katastrophen und Krankheiten verderben einen Charakter nicht, sie legen ihn nur offen.“ Seine Augen signalisierten, dass er die Warnung verstanden hatte.
polly.adler@kurier.at