Die Dauerbeleidigte
Von Polly Adler
Meine Mutter interessierte sich nur für ihre Karriere und mein Vater nur für seine G'spusis.
über Menschen, die ständig zu kurz kommen.
Du bist schon drei Wochen wieder zurück?!?! Und hast immer noch nicht angerufen? Was bist denn du für eine Freundin!“ „Eine zögerliche in deinem Fall“, dachte ich mir, denn K zwar unglaublich intelligent, deswegen inspirierend, durchaus warmherzig, aber auch extrem mühsam. K gehörte zu der Menschheitsspezies der Dauerbeleidigten. In ihr war irgendein Chip eingebaut, der ihr signalisierte, dass sie ständig unter ihrem Wert geschlagen wurde, nicht genug Beachtung fand und alle anderen auf diesem Planeten ohne große Anstrengungen all das abkassierten, wofür sie sich zerfransen und plagen musste. Wenn sie im Restaurant die Kalbsnieren bestellte und der Kellner mit geölter Grantigkeit „Leider gut, aber aus“ erwiderte, witterte sie sofort perfide Absicht dahinter (wie zum Beispiel, dass man ihr die letzte Portion nicht zu geben gewillt war, weil man sie unsympathisch fand) und verkroch sich für den Rest der Mahlzeit in vorwurfsvollem Schweigen. Dieses Prinzip zog sich durch ihren ganzen Alltag. Als sie sich irgendwann beklagte, dass kaum jemand mehr anrief und sie einlud oder sonst irgendwie zu bespaßen gedachte, beschloss ich, ihr die unbehübschte Wahrheit zuzumuten: „K, du bist wie ein Tretminenfeld, man ist ständig in Panik, dass irgendwo eine Mine hochgehen könnte. Du stresst einfach extrem mit deinen Dauerbefindlichkeiten.“ Sie sah mich erstaunlich gefasst an: „Im Gegensatz zu dir hatte ich eine sehr schwere Kindheit. Meine Mutter interessierte sich nur für ihre Karriere und mein Vater nur für seine G'spusis.“
Ich gähnte fast: „Deine Kindheit hat jetzt einmal Sendepause. Wir sind zu alt, um ständig für alle unsere Defizite unsere Kindheit zu bemühen. Get over it!“
Das fand sie naturgemäß kalt, herz- und rücksichtslos von mir. Und hob nie mehr ab, wenn ich anrief. Es kränkte mich in überschaubaren Maßen.
polly.adler@kurier.at