Meinung/Kolumnen/chaos DE LUXE

Der Wronski-Faktor

Ein grippaler Infekt hatte mich kürzlich über Tage nach Petersburg und Moskau verschlagen. Ich schwelgte in zaristischer Dekadenz, hustete auf Französisch und beschloss, dass ein zukünftiges Leben ohne Muff möglich ist, aber wenig Sinn macht. Ich trank unfassbar viel Tee in dieser Zeit, manchmal verirrte sich auch etwas Wodka in die Tassen, denn meine russische Reise führte mich auch auf die Trümmerfelder der Romantik und war entsprechend desillusionierend. Gibt es eigentlich ein Buch in der Weltliteratur, in dem das Gezeitensystem der Liebe scharfsichtiger analysiert wird, als Leo Tolstoi es in „Anna Karenina“ getan hat? Natürlich nicht, was für eine Idiotenfrage. Nachdem Anna Karenina ihr ganzes Leben in die Luft gesprengt und ihren Sohn aufgegeben hatte, aber auch zunehmend zu einem verlustverängstigten Klammeräffchen wurde, durchschwirrten den Gefühlskosmos des Grafen Wronski zunehmend Adjektive wie „erkaltet“, „abgekühlt“ oder „leer“. „Das führte ihm den ewigen Fehler vor Augen, den Menschen machen, wenn sie sich Glück als Erfüllung eines einzigen Wunsches vorstellen. Er spürte, dass in seiner Seele die Sehnsucht nach der Sehnsucht aufkam“, schreibt Herr Tolstoi, der sein Jahrhundertwerk später für „scheußlich und überflüssig“ halten sollte und lädt uns damit zu einem Rundgang durch die männliche Psyche ein. Die „Sehnsucht nach der Sehnsucht“ als tauglichster Treibstoff in der Liebe gilt aber natürlich für beide Geschlechter. Womit wieder einmal der Bogen zu Josefine Hawelka, der verstorbenen Wiener Kaffeehauslegende, gespannt wäre. Befragt, was das Geheimnis ihrer langjährigen Ehe wäre, antwortet sie mir eines Nachts wie ein Pfitschipfeil: „Der Leopold hat die Tagschicht g’macht, mir hat die Nacht gehört. Aber die jungen Leut', die picken ja ständig aufereinand und dann schauen s’ blöd, wenn’s deppert kommt.“polly.adler@kurier.at