Quergedacht: Typisch deutsch ist das nicht
Von Paul Scharner
Nach den bisherigen Auftritten der deutschen Mannschaft stellt sich mir die Frage: Wie ist unser Sieg in Klagenfurt wirklich einzuschätzen? Es wirkt so, als würde das 2:1 von Spiel zu Spiel an Wert verlieren.
Im Vergleich zu 2014 sind die Deutschen offensiv ausrechenbarer und defensiv weniger stabil. Das hängt natürlich auch mit den schweren Verletzungen von Tormann Neuer und Abwehrchef Boateng vor der Endrunde zusammen. Diese Stützen beim Weltmeistertitel vor vier Jahren sind nach ihren Comebacks noch nicht bei 100 Prozent.
Zusätzlich dürfte in der Vorbereitung etwas schief gegangen sein: Ich kann mich nicht erinnern, dass beim DFB zuvor einmal über das Hotel oder das Wetter gejammert worden wäre. Dazu gab es die Unruhe wegen Gündogan und Özil – es wirkt so, als wäre der Foto-Termin mit Erdoğan intern noch nicht ganz aufgearbeitet.
Viele Fragezeichen
Und plötzlich hat Jogi Löw viele Fragezeichen in seinem Konzept, das sicher ganz anders ausgelegt war. Ich hätte auch gedacht, dass Schweden klar besiegt werden würde, dass das 0:1 gegen Mexiko ein Weckruf zur rechten Zeit gewesen wäre.
Ich bin mir nach und trotz des 2:1-Zittersieges gegen Schweden nicht sicher, ob es für Deutschland reichen wird. Mexiko ist nun mein Tipp für den ersten Platz, und wenn das DFB-Team haarscharf auf Rang zwei landet, droht im Achtelfinale Brasilien.
Für die Schweden ist die Last-Minute-Pleite natürlich bitter. Aber irgendwie auch eine gerechte Strafe. Ich halte gar nichts davon, nach einem Führungstreffer nur noch auf die Defensive zu achten. Der Fokus auf Konter, der in der ersten Hälfte den Deutschen noch große Probleme bereitet hatte, ist nach der Pause komplett verloren gegangen. Dabei hätte es mit dem Ausschluss von Boateng noch eine Chance gegeben, noch einmal mutiger zu werden. Ein paar Meter weiter nach vorne rücken und dort aggressiv verteidigen – das hätte wohl gereicht, um in Überzahl keinen Freistoß an der eigenen Strafraumgrenze in Minute 95 zu kassieren.
Englisches Extrem
Bei England taugt mir am meisten, dass Stürmer Harry Kane großartig in Form ist. Das hilft der Mannschaft ungemein.
Nach dem 6:1 gegen Panama darf aber nicht das passieren, was ich in meiner früheren Wahlheimat oft erlebt habe: Zuerst wird dem Team nicht viel zugetraut (heuer maximal das Viertelfinale), aber nach zwei Pflichtsiegen schlägt die Stimmung ins andere Extrem um und der Titel wird als logische Konsequenz eingefordert.
Ich würde an Trainer Gareth Southgates Stelle diese Botschaft ganz offen in die Heimat schicken: „Glaubt an uns, die Unterstützung des Volkes wird helfen! Aber bitte bleibt am Boden, wir müssen konzentriert bleiben. Denn die echten Gegner kommen erst.“