Meinung

Die Grande Nation ist schwer angeschlagen

Der Präsident verharrt in Schockstarre, die Opposition im Skandalstrudel.

Lorenz Gallmetzer
über den Le Pen-Sieg

Selbst bei den hartgesottensten Politikern und Kommentatoren Frankreichs wirkte der Erdrutschsieg Marine Le Pens wie ein Keulenhieb: "Erdbeben", "Katastrophe", "schwarzer Tag für Frankreich und die Demokratie" – so lauteten die Reaktionen. Mit 25 Prozent der Stimmen ist der Front National erste Partei des Landes geworden. Die Konservativen und die Zentrumsparteien hat Le Pen um fünf bis 15 Prozent überholt, der regierende, sozialistische Präsident François Hollande wurde mit knappen 14 Prozent geradezu an die Wand gedrückt.

Die Stimme für die Rechtsextremen hat längst ihren "Schmuddelcharakter" verloren. Sehr viel dazu beigetragen hat der vor drei Jahren erfolgte Führungswechsel vom Vater zur Tochter Le Pen. Sie vermeidet alle schockierenden Sager, für die ihr Vater so berühmt ist, und gibt sich als freundliche, volksnahe, moderne Politikerin.

Franzosen zuerst

Stil und Image wurden aufpoliert – am Programm des FN hat sich nichts geändert: Raus aus der EU und dem Euro, den Deutschen die Front bieten, Franzosen zuerst, Grenzen wieder dichtmachen, straffällige Ausländer abschieben, Sozialleistungen zuerst für Inländer etc.

Zu Hilfe gekommen sind Frau Le Pen natürlich die Finanz- und Wirtschaftskrise und die bodenlos enttäuschende Performance des sozialistischen Präsidenten. Hatte Hollande im Wahlkampf noch angekündigt, er werde sich keinem "Diktat der Frau Merkel" mehr beugen, war davon schon nach zwei Monaten Amtszeit nichts mehr zu merken, und mit der Wirtschaft ging es weiter bergab.

Die Konservativen sind aufgrund ihrer Zersplitterung und Skandale ebenso diskreditiert. Der große Donnerschlag kam am Montag: Die gesamte Parteileitung der Sarkozy-Partei UMP musste zurücktreten. Die Justiz wirft den Funktionären vor, für mehr als zehn Millionen Euro falsche Rechnungen präsentiert zu haben, um den Wahlkampf Sarkozys über das gesetzliche Limit hinaus zu finanzieren.

Während Marine Le Pen triumphierend ankündigt, sie werde mit einer rechts-rechten Koalition im EU-Parlament die EU von innen her "blockieren", stehen die etablierten Parteien und der Staatspräsident hilflos unter Schockstarre. Hollande hat zwar wieder einmal angekündigt, er werde sich in Brüssel jetzt für eine Lockerung der Sparpolitik stark machen, aber seine persönliche Autorität und das Gewicht seines Landes im EU-Konzert sind schwer angeschlagen. Das ist besorgniserregend für die gesamte EU. Denn schließlich waren es Frankreich und Deutschland, die mit dem Elysée-Vertrag und dem Bruderkuss zwischen Adenauer und De Gaulle die Union begründet und seither ausgewogen als Projekt für Frieden und Wohlstand geführt haben. Dieses Gleichgewicht ist jetzt – nicht zuletzt durch die vielen Anti-EU-Stimmen auch in anderen Ländern – in eine bedenkliche Schieflage geraten.

Lorenz Gallmetzer war langjähriger ORF-Korrespondent in Washington und Paris.