Weitwandern im Lechquellengebirge: Von Hütte zu Hütte
Von Maria Kapeller
Erste Nacht in der Hütte, das Schlaflager gut belegt. In schmalen Regalen stapeln sich Leiberln und Zahnbürsten, auf dem Boden die Rucksäcke. Schon vor der Hüttenruhe um 22 Uhr ist es mucksmäuschenstill. Wecker braucht es nicht, schon weit vor sechs Uhr kramen erste Wanderer in ihren Rucksäcken herum. Kurz die Augen reiben und den obligatorischen Blick aus dem Fenster werfen: Aus dem Tal ziehen dicke, daunenweich anmutende Nebelschwaden hoch und hüllen die Gipfel ein. Der steile Aufstieg am Vorabend, geprägt von Nieselregen, Kälte und Düsterheit, hat sich ausgezahlt. In der Stube der Biberacher Hütte auf 1.846 Meter Seehöhe ist das Frühstück angerichtet: Käse, Wurst, Marmelade, Schokoaufstrich, Butter. Der Kamin ist noch warm und lädt zum Verweilen ein. Aber der Abenteuerdrang ist größer, zudem kommen bald die ersten Tagesgäste, der Hüttenwirt bereitet sich schon darauf vor. Auf zu Etappe zwei.
Die Biberacher Hütte ist die erste von fünf Hütten. Die sechstägige Tour führt als fünfzig Kilometer langer Höhenweg durch das Lechquellengebirge, insgesamt sind 3.500 Meter Aufstieg zu meistern. Vor den Wanderern, die an diesem Morgen zur Göppinger Hütte marschieren, liegen rund zehn Kilometer und fast 1.100 Höhenmeter. Kaum aus der Tür, bietet sich der Blick auf eine sattgrüne Almen- und Berglandschaft. Giftiger, blauer Eisenhut säumt den breiten Hohlweg. Bald darauf geht es steil bergab, vorbei an Rinnsalen und kleinen Wasserfällen, dann wieder bergauf bis zur steinernen Oberen Alpschellaalpe. Weil alle dasselbe Ziel haben, fühlt man sich schnell wie in einem Jungscharlager für alle Altersgruppen: Man trifft einander immer wieder, versorgt sich gegenseitig mit Schokolade; fotografiert einander. Wenig später Rast auf einem Stein mit Weitblick: Mit der Jause werden wortlos die Gedanken ausgepackt, die sich beim Gehen entfaltet haben. Wer gemeinsam auf Wanderschaft ist, versteht sich schweigend.
Es geht noch mal steil bergauf, wird felsiger und nach gut fünf Stunden taucht die Göppinger Hütte (2.245 Meter) aus dem Nebel auf. Das stattliche Gebäude mit Holzschindeln gehört wie die vier anderen Hütten zum Deutschen Alpenverein. Hüttenwirt Stefan Schwaiger begrüßt bei der Anmeldung jeden Gast. Die Häuser am Lechquellenweg sind bestens auf Weitwanderer vorbereitet, vorbestellte Menüs werden bestätigt, Details abgefragt, Schlafplätze zugewiesen. Vor dem Essen erfrischen sich einige: „Wo sind die Duschen?“, fragt eine. „Es gibt nur Waschbecken und das Wasser ist eiskalt“, entgegnet eine andere. Zum Abendessen um 18 Uhr gibt es Lauchcremesuppe, Kassler (Geselchtes), Melanzani mit Linsen und dann Schokomousse. „Wir kaufen so regional wie möglich ein“, erklärt der Hüttenwirt, „das Fleisch kommt vom Hof unserer Schwägerin und statt Almdudler schenken wir Limonade aus Vorarlberg aus.“
Steinbock-Kino
Schwaiger bewirtschaftet die Hütte seit 2009 mit seiner Frau Veronika. Kennengelernt haben sie sich als Teenager im Alpenverein von Lech. Als Hüttenwirt müsse man ein Allrounder sein. „Wir arbeiten in der Saison hundert Tage durch. Frei gibt es da nicht.“ Die zwei Gaststuben sind voll, die Wanderer spielen Karten oder schreiben Eindrücke in kleinen Büchlein nieder. Auf einmal geht ein aufgeregtes Raunen durch den Raum, ein paar Gäste zücken die Kamera. Direkt vor der Fensterfront tun sich die Hörner eines Steinbocks auf, dann zeigt er sich in voller Pracht, weitere folgen ihm. Es ist wie Kino in den Bergen.
Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um 6.30 Uhr. Hinter noch finsteren Bergspitzen tut sich ein gelber Sonnenstreifen auf, das Tal im Nebel, am Berg die Frühaufsteher, die ihr Glück kaum fassen. Karge Worte, jeder bleibt für sich und wiegt sich im goldenen Licht. Zurück in der Hütte herrscht Verunsicherung über die nächste Etappe: Sie ist als einzige nicht als „mittel“, sondern „schwer“ eingestuft. Die Expertise des Hüttenwirts: „Es gibt ein paar ausgesetzte Stellen, wir mussten immer wieder Leute mit dem Hubschrauber holen, die sich weder vor noch zurück trauten.“ Er rät, sich den Weg anzuschauen und rechtzeitig umzukehren, wenn man unsicher ist. Die Alternative führt ins Tal, wo im Gasthaus Älpele frische Milch aufgetischt wird. Unten geht man mehrere Stunden leicht bergauf entlang des Lechwegs, auf dem man viel mehr Wanderern begegnet als oben am Lechquellenweg. Am Formarinsee, über dem die 2.704 Meter hohe Rote Wand thront, kommen alle wieder zusammen. Aus der richtigen Perspektive zeigt sich der See in kitschiger Herzform. Im Etappenziel Freiburger Hütte (1.919 Meter) kommt beim Betreten Hostel-Stimmung auf: Rockmusik, Peace-Zeichen und ein junges Team abseits tradierter Hütten-Klischees. Auch hier läuft alles reibungslos, aber viele Wanderer sind nach den Stunden in der Natur perplex, wenn wie bei einer Schulprüfung Essens- und Frühstückswünsche abgefragt und die strikten Hüttenregeln erläutert werden. Um die Freiheit des Weitwanderns zu spüren, unterwirft man sich gerne Vorschriften, geht zeitig ins Bett, gibt sich mit Katzenwäsche zufrieden und teilt sich mit Fremden den Schlafraum.
Die vierte Etappe beginnt bei leichtem Wind und Sonne. Die zehn Kilometer lange Strecke führt über Wiesen, die klüftigen Felsformationen des „Steinernen Meers“ und einen steilen Anstieg auf den Gehrengrat. Mit 2.439 Metern ist er der höchste Punkt des Höhenwegs und bietet einen einmaligen Rundumblick. In der Ferne blitzt der Spullersee, umgeben von schroffen, grün bewachsenen Berggipfeln und grauem Fels, wie aus einem isländischen Naturfilm. Dieser Blick macht das Herz weit, sich zu lösen, fällt schwer.
Kurz über den Grat, dann steil bergab, eine leicht zu meisternde ausgesetzte Stelle und ein paar Stunden wandern – dann steht man vor dem Spullersee. Von hier aus wäre es eine Stunde zur Ravensbuger Hütte (1.948 Meter), von dort ginge es auf der letzten Etappe zur Stuttgarter Hütte. Wer keine sechs Tage Zeit hat, steigt beim Spullersee nach vier Wandertagen aus. Vorbei an der urigen Alpe Spullers, wo Milch und Frischkäse serviert werden, während Einheimische Kränze für den Almabtrieb binden. Ein gemütlicher Ausklang der Weitwanderung – mit dem Vorsatz, zur Vervollständigung zurückzukommen.