Weinviertel undercover: Das Weinviertel verspricht eine Reise von besonderer Mystik
Von Cordula Puchwein
Im Winter zieht es bekanntlich viele Reisende in die Berge. Auf die Gipfel, zur Sonne, den Blick stets nach oben gerichtet. Wie reizvoll auch das Gegenteil sein kann, zeigt Retz im nordwestlichen Weinviertel. Dort geht man mit Besuchern – sprichwörtlich – in den Untergrund. Über Dutzende Stufen gelangt man vom Marktplatz aus – es ist der zweitgrößte Österreichs – in das verzweigte Kellersystem unter der Stadt – das wiederum als größter Weinkeller Österreichs, angeblich sogar Mitteleuropas gilt. „Ein Kellersystem in dieser Form gibt es tatsächlich nirgendwo sonst. Mit einer Gesamtlänge von 20 Kilometern ist es sogar dichter und weiter ausgebaut als das oberirdische Straßennetz“, sagt Robert Schimeck. Der Kellerbegleiter kennt dieses unendlich anmutende Labyrinth aus Stollen, Röhren und Räumen sehr gut. Seit 21 Jahren führt er Besucher aus aller Welt durch einen Teil dieser erstaunlichen Parallelwelt unter der Retzer Altstadt. Mit über 4.000 Führungen und gut 80.000 Besuchern, die er bislang persönlich durchgeleitet hat, ist Robert Schimeck heute selbst ein Retzer Urgestein. Und dabei fit wie ein Turnschuh. Die vielen Stufen und Gänge, die er Zigtausende Male gegangen ist, halten den ehemaligen Lokführer in Form. Und mit Tunneln und Röhren hatte er von Berufswegen ja auch zu tun, wenngleich die unterirdische Anlage in Retz noch einmal etwas ganz Besonderes ist. Denn abgesehen von der beachtlichen Länge von gut 20 Kilometern, beeindruckt auch die Tiefe des gewaltigen Konstrukts: Insgesamt erstreckt sich das „Unterirdische Retz“ über drei Stockwerke in 20 Metern Tiefe.
„Das Alleinstellungsmerkmal aber ist, dass der Keller aus reinem Meeressand besteht.“ Spätestens wenn Schimeck diesen Satz in die Runde wirft, wird einigen mulmig. So weit unter der Erde und dann ist alles nur aus Sand? Doch Schimeck beruhigt und erklärt: „Ganz Retz steht auf einer frühtertiären Meeresablagerung, die bis zu 30 Meter tief ist. Die Anschwemmung stammt vom Eggenburger Meer, das es im Miozän, also vor 25 Millionen Jahren, hier gegeben hat. Über Millionen Jahre hat sich der Sand immens verdichtet und ist deshalb heute so hart wie Beton. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit von 87 Prozent hält das Konstrukt perfekt.“
Dennoch ist das Material, zu aller Erstaunen, einfach zu bearbeiten. Die in den Sand gekratzten Worte, Initialen, Danksagungen, Bilder und Ähnliches zeugen davon. Die Vorteile des Sandes haben vor 600 Jahren, so alt schätzt man die Anlage, auch schon die Ur-Weinviertler erkannt und deshalb begonnen, Gänge zu graben. Das Erstaunliche: Keine Röhren und Räume der drei Stockwerke liegen direkt übereinander. Perfekte Statik. Wie die Menschen das dazumal bewerkstelligt haben, ist rätselhaft. Vielleicht haben die „Kellerbaumeister“ Kompassnadeln zur Orientierung verwendet. Vielleicht waren aber auch die Belüftungsschächte hinauf an die Oberfläche, zu den Straßen, Gassen, Höfen und Gärten von Retz, wichtige Anhaltspunkte beim Kellerbau in horizontaler Tiefe. Dafür spricht, dass die Dampflöcher, die für die Belüftung des Kellers bis heute essenziell sind, so gesetzt sind, dass sie vom höchsten Punkt der Kellerröhre zur Oberfläche hinaufgebohrt wurden.
Wie Maulwürfe haben sich die Retzer so über Jahrhunderte durch den Sand gegraben und damit Keller um Keller angelegt. Viele davon sind heute noch im Zustand wie vor Jahrhunderten vorhanden. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden dann auch welche mit Ziegeln ausgekleidet. „Das hatte allerdings keine statischen Gründen, sondern war eher dem Renommiergehabe geschuldet“, sagt Schimeck und verweist im Zuge des Rundganges auf wunderschön gemauerte Kellerabteile, viele davon sind mit nicht minder kunstvoll gearbeiteten Eisengittern gesichert. Der Weinkeller ist, neben dem touristisch genutzten Bereich, nach wie vor im Besitz der Retzer Bürger. „Etliche Häuser haben einen direkten Zugang zum Keller und viele Familien benutzen diesen auch heute noch, um ihre Weine zu lagern“, erläutert der Kellerbegleiter. Auch er hat einen, erzählt Schimeck, aber allzu oft besucht er ihn nicht – der über 90 Stufen wegen, die da jedes Mal zu bewältigen sind.
Zeitgeschichte
Der Rundgang gibt auch Einblick auf so manche vinophile Schätze, die hier lagern. Gleichzeitig erfahren die Besucher Wesentliches zu Stadt-, Regional- und Wirtschaftsgeschichte, vor allem aber über die allgegenwärtige Weinwirtschaft, wie sie seit Jahrhunderten in der Gegend um Retz gepflegt wird. „Das war auch der Grund, weshalb dieser Weinkeller überhaupt entstanden ist. Die Stadt, respektive die Bürger von Retz, haben im Jahr 1458 von Kaiser Friedrich III. das Privileg zum Handel von Salz, Getreide, anderer Waren und auch von Wein erhalten. „Schon damals dürfte es also einen angeregten Weinhandel gegeben haben – und damit wohl auch diese ausgedehnte Kelleranlage. Das Handelsprivileg hat der Stadt Retz im Laufe der Zeit jedenfalls großen Wohlstand gebracht“, schildert Robert Schimeck. Dieser spiegelt sich unter anderem in den vielen schönen Bürgerhäusern am Marktplatz mit ihren vielfältigen Fassaden im Stil der Gotik, Renaissance, des Barock bis hin zum Biedermeier. Wenn man über den gewaltigen Platz schlendert, ahnt man freilich nichts von den gewaltigen Kellerfluchten, die sich unter den Füßen befinden. Umso größer ist die Überraschung, wenn die Besucher dann in die „vinophilen Tiefen“ hinabsteigen und dort mit künstlerisch-witzig gestalteten Erlebnisstationen konfrontiert werden. Und nicht nur das. Seit etlichen Jahren wird im Labyrinth in Form eines lebendigen Stationentheaters sogar Theater gespielt.
Termine auf www.theater-retz.at
Weitere Besonderheiten: Neben dem berühmten 125-Eimer-Fass lagert im Erlebniskeller mit dem „Staatsvertragswein“ aus 1955 auch ein historisch wertvoller Tropfen. Mit welchen Weinen die Retzer Winzer heute reüssieren, erfährt man am Ende der Führung – in der Vinothek im Hotel Althof mit Wein aus dem Retzer Land. Ein schönes Finale einer wahrlich tiefgründigen Reise.
Neben dem Retzer Erlebniskeller – einer der größten historischen Weinkeller Mitteleuropas – lohnt ein Besuch des Rathauses. Die Rathauskapelle, ein beliebter Hochzeitsort, ist mit prunkvollen Deckenfresken ausgestattet. Und vom Rathausturm aus sieht man weit ins Land hinein und sogar hinüber ins Mährische.
Bei einem Stadtrundgang unbedingt auch ansehen: die Stadtbefestigung mit dem Nalbertor und Znaimertor, den Hauptplatz mit Pranger und Dreifaltigkeitssäule, das Verderberhaus im venezianischen Renaissancestil.
Und: Das Wahrzeichen der Weinstadt Retz ist nicht etwa ein Weinfass, sondern eine Windmühle: eine der beiden letzten betriebsfähigen in Österreich. Und am Fuße der Retzer Windmühle wartet mit dem „Windmühlenheurigen“ samstags und sonntags ein besonderer kulinarischer Treffpunkt.