Tischgespräche: Dieses Mal mit Heinz Marecek
freizeit-KURIER-Chefredakteur Michael Horowitz und seine Frau Angelika luden 20 befreundete Künstler zu intensiven Gesprächen ein. Bei einem Essen, in einem Wirtshaus, in einer Atmosphäre, bei der sie sich wohlfühlten. Festgehalten wurden die "Tischgespräche" im gleichnamigen Buch. Lesen Sie in den folgenden 20 Tagen was Alfred Dorfer, Christiane Hörbiger und viele mehr bewegt. Dieses Mal zu Gast: Schauspieler Heinz Marecek.
"Ich glaube an die Magie des Lachens"
Heinz Marecek war 27 Jahre lang im Ensemble des Theaters in der Josefstadt und kehrte nach einer jahrelangen Theaterpause in seiner Traumrolle als Willy Loman in "Tod eines Handlungsreisenden" auf die Bühne zurück. Heute nimmt sich der 66-jährige großartige Geschichtenerzähler - auf seinen Wegen zwischen den Drehorten Kitzbühel und Ramsau, zwischen Golfplatz und Bridgepartie - aber auch gerne Zeit für die schönen kleinen Dinge des Lebens, die er zu genießen versteht.
Michael Horowitz: Schön, dass wir uns hier in Lofer beim Steinerwirt treffen. Woher kommst du gerade?
Heinz Marecek:Vom Golfplatz Lärchenhof in Erpfendorf.
Na du führst ein Leben. Wir haben uns lange nicht gesehen, gibt`s was Neues?
Gestern war ich im Restaurant La Piccola essen …
Na geh …
Nach dem Essen hab ich die Kellnerin gefragt: "Entschuldigung, kann ich einen Zahnstocher haben?" Sie darauf: "Ja gerne, es ist gerade einer frei geworden."
Ein wunderbarer Einstieg für ein ernsthaftes Gespräch.
Wie ernsthaft?
Nicht sehr. Es geht - und da sind wir ja bei dir ganz richtig - ums Essen, Trinken und die anderen schönen Dinge des Lebens. Was sind für dich "die anderen schönen Dinge des Lebens"?
Ich kann mich an unendlich vielen Sachen erfreuen. Mir genügt schon, wenn ich aufstehe und es ist ein schöner Tag, an dem ich frei habe. Dann gehe ich spazieren - oder wenn es regnet, kann ich auch stundenlang lesen. Ich kann diese schönen kleinen Dinge des Lebens sehr genießen. Dinge, die weder etwas kosten noch schwer zu bekommen sind …
… wenn man diese Momente erkennt und sich an ihnen erfreuen kann. Und wenn man die Muße hat.
Ich glaube, dass jeder Mensch viel mehr Muße hätte, als er glaubt. Das Problem ist nur, dass die meisten sich nicht die Zeit für die kleinen Dingen des Lebens nehmen.
Nimm doch nur ein Beispiel: Die Zeit, ein Gedicht am Tag zu lesen, hätte jeder. Diese fünf oder sieben Minuten am Tag, um ein Gedicht von Schiller, Goethe oder Eichendorff zu lesen - nachdem man all die schrecklichen Nachrichten in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gehört hat -, die hätte jeder Mensch.
Welches Gedicht hast du gestern gelesen?
Leider keines. Ich mache das ja leider auch nicht regelmäßig und bin darin auch nicht konsequent genug, aber es würde mir sehr viel Freude machen. Ein anderes Beispiel: Ich habe drei Monate lange jeden Tag zwei Stunden lang Spanisch gelernt … aus lauter Hetz an der Freud`.
Ich glaube, jeder könnte sich mit einfachen Mitteln und ohne großen Zeitaufwand viele kleine, schöne Mosaike bauen.
Hattest du den Hang zu den kleinen schönen Dingen immer oder erst, seit du die 60 überschritten hast?
Immer schon. Ich genoss das als junger Mensch sogar noch müheloser. Ich konnte mich mit 14 Jahren nach dem Mittagessen in eine Hängematte legen …
… während deiner Sommerferien im Mühlviertel?
Im Mühlviertel gab`s keine Hängematten. Aber am Wörthersee zum Beispiel. Ich konnte also in der Hängematte liegen und einfach so vor mich hin in die Luft schauen. Das kann ich heute noch gut.
… und lässt die Gedanken kommen?
Ja, das hab ich gerne. Das ist wie Zusammenräumen im Kopf. Ich genieße das sehr. Da ist zum Beispiel der Golfplatz von Kaps. Ich habe dort sicherlich über 100 Mal gespielt - trotzdem ist die Landschaft für mich immer noch völlig unabgenutzt. Es gibt dort so fünf bis sechs Punkte, an welchen ich jedes Mal wieder aufs Neue stehen bleibe und mich einfach an dem erfreuen kann, was ich sehe.
Kannst du das in einer Stadt genauso?
Das kann überall sein.
Was sind - ganz spontan - deine liebsten Plätze?
Venedig steht immer an allererster Stelle. In Santa Lucia auszusteigen, erzeugt bei mir Gänsehaut. Venedig hat etwas, was kein anderer Platz der Welt hat.
Dann natürlich Wien. Wien ist eine unglaubliche Stadt, und je weniger Zeit ich dort verbringe, desto wichtiger ist es mir, nach dem Frühstück - ganz ohne jeden Plan - das Haus zu verlassen und einfach drauflos zu gehen. Wie ein Tourist gehe ich vom Brahmsplatz über den Naschmarkt, an der Secession vorbei zur Oper …
… und lässt dich durch die Stadt treiben? Ohne Ziel?
Ja. Jeden Tag entdecke ich wieder Neues. Nicht immer nur Schönes, aber zu entdecken gibt es immer vieles …
… und das kann Stunden dauern?
Manchmal sogar den ganzen Tag. Ich flaniere durch die Gassen, trinke dort und da einen Kaffee, kaufe mir ein Buch, setze mich irgendwohin und lese eine Stunde darin, gehe immer gerne in das eine oder andere Museum hinein … all das kann ich unglaublich genießen.
Lieblingsplatz Nummer drei ist?
Ibiza, wo die Familie meiner Frau ein Haus hat und wo ich leider viel zu wenig Zeit verbringe. Über der Insel weht für mich ein ganz spezieller zärtlicher Atem. Es haben sich dort - abgesehen von den Einheimischen - die richtigen Menschen niedergelassen. Das ist geradezu ein Geheimbund von Menschen, die von überall in der Welt kommen, gut miteinander können und dort leben wollen.
Danach kommt natürlich sofort London. Ich liebe diese Stadt und diese so besondere britische Art der Annäherung ans Leben. Dort könnte ich einen ganzen Tag an einer Ecke stehen und nur die Menschen beobachten. Das allein ist mir ein tagesfüllendes Programm.
Welcher Ort gehört noch zu deinen Top Fünf?
Derzeit ist das sicherlich auch Kitzbühel. Ich habe mich inzwischen sehr an diese Stadt gewöhnt und ich genieße diese gelungene Verbindung von Arbeit und Freizeit. Aber das wird sich sicherlich nach Beendung der Serie "SOKO Kitzbühel" ändern. Trotzdem wird mir Kitzbühel sicherlich fehlen.
Und deren wunderschöne Golfplätze?
Ja, auch.
Jetzt kommst du vom Golfplatz und fährst von hier nach Kitzbühel zurück, um Bridge zu spielen. Ein schönes Leben. Was hätten wohl dein "Papsch" und deine "Mamsch" zu diesem Leben gesagt?
Sich gefreut, hoffe ich. Diese Veränderung in meinem Leben passierte ja nicht von heute auf morgen. Ich habe ja keinen Lotto-Sechser gewonnen, sondern mein Leben hat sich über Jahrzehnte hindurch verändert. Der Weg vom Gemeindebau oder der Zimmer-Kuchl-Kabinett-Wohnung bis zu meinem heutigen Leben ging schrittweise vor sich. Allerdings habe ich sehr früh begonnen, mir ein schönes Zuhause oder eine schöne Wohnung zu schaffen. Das war mir von Anfang an wichtig. Ich habe immer sehr viel Geld - auch wenn ich wenig verdient habe - für Wohnen ausgegeben.
Ich erinnere mich an die Salzburger Festspiele 1972. Da hast du während des Festspielsommers im Fondachhof, damals eines der exklusivsten Hotels in Salzburg, gewohnt. Wie viel hast du damals verdient?
44.000 Schilling …
… und wie viel hast du in dieser Zeit im Fondachhof für das Zimmer gezahlt?
98.000 Schilling.
Wie man sieht, hattest du immer ein Herz für schönes Wohnen, und ich erinnere mich, deine Wohnungen waren immer nicht nur schön, sondern auch sehr stilvoll eingerichtet.
Mir war vor allem immer eines sehr wichtig: Raum zu haben. Ob man das darauf zurückführen kann, dass ich als Kind auf beengtem Raum leben musste, weiß ich nicht. Aber es steht fest, dass es für mich immer wichtig war, mich zurückziehen zu können. In meiner Kindheit bestand das Rückzugsgebiet aus dem Raum zwischen Herd und Küchentisch … ich nehme an, das hat mich geprägt.
Kannst du dich erinnern, was du dir für deine erste Gage gekauft hast? Hast du dir damit einen Wunsch erfüllt?
Um das Geld konnte ich mir nicht viele Wünsche erfüllen. Meine erste Gage erhielt ich im Jahr 1966 am Ateliertheater am Naschmarkt, das Veit Relin damals geleitet hat - es war das Stück "Narr und Nonne" …
Welche Rolle hast du gespielt, jene der Nonne?
Nein, den Psychiater Dr. Burdiegel. Dafür bekam ich an einem Abend vierzig Schilling und kein Probengeld.
Wie lange wurde probiert?
Zirka vier Wochen.
Musstest du damals zusätzliche Arbeiten annehmen, um Geld zu verdienen?
Nein, ich wurde von meinen Eltern unterstützt, habe noch zuhause gewohnt und gegessen. Es hat lange gedauert, bis ich genug verdient habe, um davon leben zu können. Nach dem Ateliertheater habe ich im Theater der Courage gespielt. Auch dort habe ich 40 Schilling pro Abend verdient, allerdings für jede Vorstellung zusätzlich einen Fahrschein bekommen. Alle zehn Tage 400 Schilling und zehn Vorverkaufsfahrscheine.
Wofür hast du deine ersten Abendgagen ausgegeben?
Fürs Essen und Trinken.
Und wurdest du davon satt?
Mit der Zeit immer satter. Es folgten Engagements an der Volksoper und dann am Theater der Jugend. Die Gagen waren immer noch bescheiden, aber schön langsam verdiente ich zumindest so viel, dass ich mir eine eigene Wohnung leisten konnte. Bald darauf habe ich, das war 1968, Julia Migenes, meine erste Frau, kennengelernt.
Sag, Heinzilein, ist es Zufall, dass zwei von mir sehr geschätzte Menschen, wie Franz Vranitzky und du, die beide "Sozialismus ist Charaktersache" und "Ein Leben lang Chancengleichheit für alle Menschen" sagen, begeisterte Golfspieler sind? Beide könnte ich mir - aufgrund ihrer ideologischen Einstellung - überall vorstellen, nur nicht am Golfplatz.
Vor 50 Jahren hätte ich diesen Satz absolut unwidersprochen gelassen, aber die Zeit, wo Golf ein elitärer Sport war, ist doch längst vorbei. Der Schiurlaub einer Familie mit zwei Kindern ist heutzutage sicherlich teurer, als Golf zu spielen. Damals hat eine Mitgliedschaft im Golfclub Freudenau 250.000 Schilling gekostet. Es gab Zeiten, in denen auch Tennis so elitär war, dass man diese Sportart im Wiener Arbeiter Turn- und Sportverein, dem WAT, gar nicht aufnehmen wollte, so abgehoben war damals diese Sportart.
Dein Buch "Das ist ein Theater!" hast du deiner Mutter mit dem Satz "Für meine Mutter, die immer dafür sorgte, dass genug zum Lachen im Hause war" gewidmet …
Ja, das stimmt. Und ich habe auch geschrieben: "… wir haben so gelacht, dass uns die Salatblätter bei der Nase herausgekommen sind." Was auch stimmte. Meine Eltern haben ein Leben lang das Simpl geliebt und kein Programm versäumt. Zuhause haben sie sich dann gegenseitig tagelang die Pointen erzählt. Immer wieder. Und sie haben sich erstaunlich viel von jedem Programm gemerkt und die Gags wortwörtlich zitiert. Das hat sich natürlich eingeprägt. Selbst 40 Jahre später, als ich selbst mit diesen Programmen gearbeitet habe, wusste ich aus alten Sketchen, die ich selbst nie selber gesehen hatte, immer noch die Pointen auswendig.
Das heißt, du hast damals schon Pointen geliebt?
Wenn es eine gute war.
Worin liegt die Kunst, eine Pointe zu setzen?
Es ist eine Frage des Timings, aber in allerletzter Konsequenz ist es nicht erlernbar. Entweder man kann`s oder nicht. Komödie ist Timing.
Hattest du dieses richtige Timing immer schon?
Ja, ich war dafür begabt. Aber ich habe auch in der Zusammenarbeit mit Ernst Waldbrunn sehr viel gelernt und mit ihm fast jeden Abend Pointen neu ausprobiert.
Entstehen Pointen auf der Bühne nie aus einer Spontaneität heraus, sind sie immer präzise gesetzt und vielfach geprobt?
Es muss erprobt sein, aber es gibt doch auch eine andere Schule …
… jene, wo Sketches jeden Abend neu erfunden werden?
Ja, der mir bekannteste ist Robin Willams, der kann das wirklich aus dem Stegreif. Dazu gehört auch die Tradition der alten jüdischen Stand-up-Comedians, zu denen zum Beispiel Don Rickles gehört hat. Die Amerikaner haben überhaupt eine hochentwickelte Boulevard-Technik. Doch auch bei den Marx Brothers war jeder Handgriff hundertmal erprobt …
Das heißt, Komödianten sind letzten Endes Handwerker …
Das kann man gar nicht fett genug schreiben.
Da du gerade Ernst Waldbrunn erwähnt hast, bitte erzähl mir diese herrliche Anekdote, als du eines Nachmittags Rumobst gegessen hast …
Es war Anfang der siebziger Jahre und ich habe den Nachmittag bei meinem Freund Roman Schliesser verbracht. Von dessen Haus standen damals gerade die Grundmauern und wir saßen dort herum und plauderten.
Irgendwo stand ein Gurkenglas mit Rumobst. Sonst gab es nichts zu essen und ich begann mir eine Frucht nach der anderen aus dem Glas zu fischen. Langsam türmte sich ein Berg Obstkerne vor mir auf. Als es schließlich Zeit war, in die Kammerspiele zur Vorstellung von "Drei Männer im Schnee" aufzubrechen, stand ich auf, öffnete den Bretterverschlag, trat an die frische Luft und fiel augenblicklich um.
Jetzt brach Panik in mir aus, denn so viel wusste ich noch: Ich war von den mit Rum angesaugten Früchten stockbetrunken und sollte in zwei Stunden auf der Bühne stehen. Man setzte mich in ein Taxi, ich hielt den Kopf aus dem Fenster und wurde in die Rotenturmstraße geführt. Dort angekommen, wollte ich mich in meiner Garderobe auf dem Sessel ausruhen und setzte mich prompt daneben. Jetzt bemerkten meine Partner, Hannerl Thimig und Lotte Lang, natürlich sofort, was los war und riefen den Theaterarzt, der mir sofort irgendetwas mit der Pipette eingeflößt hat …
… wo war Ernst Waldbrunn zu diesem Zeitpunkt?
In dem Lokal vis-à-vis schnapste er mit dem Techniker. Aber als er mich dann sah, wusste er sofort, dass ich stockbetrunken war - so fremd war ihm dieser Zustand ja auch wieder nicht. Auf der Bühne drückte er mich in einen Sessel und achtete die ganze Zeit darauf, dass ich sitzen blieb. Auch den Text hat er so verändert, dass ich nie aufstehen musste. Als ich dann zu früh abgehen wollte, hielt er mich einfach zurück und führte mich am Ende der Vorstellung hinaus …
Und konntest du deinen Text noch?
Ja, jedes Wort. Ich bin nie gehangen, habe mich nicht versprochen, aber die Vorstellung dauerte eine Viertelstunde länger, weil ich so langsam gesprochen habe. Nachher sagte der Waldbrunn zu mir: "Dir gehören ein paar Watschen, du Rotzbub." Zur Strafe musste ich mit ihm nach der Vorstellung in die Eden Bar gehen und mit ihm dort eine Flasche Cognac trinken! Ich habe nie wieder betrunken gespielt, und Cognac kann ich bis heute nicht riechen.
Wann hast du dich eigentlich zum ersten Mal für Regie interessiert?
Bereits am Reinhardt Seminar. Ich habe mich später geärgert, dass ich nicht Schauspiel und Regie belegt habe.
Warum wolltest du Regie führen?
Die schlechten Regisseure haben mich ermutigt. Ich habe sehr rasch gemerkt, dass die meisten Regisseure den Schauspielern die falschen Hilfestellungen geben.
Was war deine erste Regiearbeit?
"Die Gratulanten (The Boys in the Band)", ich war 28 Jahre alt und die Meisterleistung dabei war nicht die Inszenierung, sondern Franz Stoß dieses Stück schmackhaft gemacht zu haben. Ihm kann man ja viel Positives nachsagen, aber dazu gehört sicherlich nicht sein Faible für Schwule.,
War das Stück ein Erfolg?
Ja, es wurde monatelang gespielt und jede Vorstellung war ausverkauft.
Viele Jahre später ist es dir gelungen, aus dem Blödler Maxi Böhm einen brillanten Komiker zu machen.
Na ja, das ist übertrieben. Ich habe ihm vielleicht dabei geholfen. Aber er hatte eine große Sehnsucht nach dieser Form des Theaters und zuerst mit "Pension Schöller" und dann mit dem von mir inszenierten Ayckbourn-Stück "Schlafzimmergäste", in dem er gemeinsam mit Vilma Degischer die Hauptrolle spielte, ist ihm der Durchbruch als ernstzunehmender Schauspieler gelungen.
War er im Grund seines Herzens ein tieftrauriger Mensch?
Der ganze Maxi war wie eine undurchdringliche Wand. Er konnte seine Probleme nicht mit anderen teilen. Nie hätte er mir gesagt: "Heute geht es mir schlecht." - obwohl ich sehr eng mit ihm befreundet war. Ich erinnere mich an ein gespenstisches Erlebnis: Zwei oder drei Tage, nachdem seine Tochter Christine zu Tode gestürzt war, habe ich ihn bei unserem gemeinsamen Optiker "Giovanni" Maurer in der Josefstädter Straße getroffen. Ich sah ihn und wollte ihn einfach nur in den Arm nehmen und ihm mein Mitgefühl ausdrücken, als er - noch ehe ich ihn umarmen konnte - begann, mir einen Witz zu erzählen: "Kennst du den? Treffen sich zwei Blondinen …"
Hat er überhaupt je sein Inneres nach außen gekehrt? Hat er je wirklich herzlich gelacht?
Es hat ihn so eine Art Glasur umgeben, eine Schicht, durch die man nie dringen konnte. Er war ein tief einsamer Mensch.
Hast du nicht auch Alfred Böhm sehr verehrt?
Ich hatte ihn sehr gerne - verehrt habe ich ihn nicht. Er konnte einfach alles aus dem Stand und hatte einen unglaublichen Sinn für Pointen und Komik. Er konnte nichts, was man lernen musste, aber er konnte all das, was man nicht lernen kann.
Kurt Sowinetz hingegen hast du verehrt …
Ja, und ich habe ihn geliebt. Er war ein eigener Planet, ein völlig in sich geschlossener Kreislauf. Eine große Persönlichkeit, die keine Konventionen übernommen hat. Er hat die Figuren, die er gespielt hat, auch immer selbst gestaltet und neu erfunden, hat sich für jede Figur kleine Merkwürdigkeiten ausgedacht. Er war ja auch Erfinder von Dingen wie kleinen Geigen und Dampfmaschinen. Er war großartig.
Wenn man von all deinen Freunden und Lehrern spricht, darf man natürlich Otto Schenk nicht vergessen. Was verdankst du ihm?
Der Otti war für mich ein absolutes Elementarerlebnis. Als Lehrer am Seminar war er wie ein energiegeladener Sputnik. Wenn er in die Klasse kam, hat er uns stundenlang erzählt, wie Theater sein muss. Immer hat er vorgespielt, wie eine Rolle falsch und wie sie richtig gespielt werden muss. Das war immer eine explodierende Symphonie von Intelligenz, Begabung und Komödiantentum. Die Stunden bei ihm waren ein absolutes Urerlebnis, und bereits nach den ersten zwei, drei Stunden war ich ihm verfallen, weil er so viele Antennen in mir angerührt hat.
Du hattest ihm gegenüber jedoch einen großen Vorteil, du hast bereits als Sechsjähriger Napoleon gespielt …
Das wäre übertrieben. Ich hatte einen napoleonischen Zweispitz am Kopf, eine Schärpe um und einen Tambourstab, mit dem ich auf den Boden klopfen durfte. Es war eine Schulaufführung in der Kenyongasse, und ich war der Spielansager. Das war die Initialzündung. Ab diesem Abend - nach dem ersten Applaus - wusste ich, dass ich Schauspieler werden wollte. Wenige Jahre später - ich war ungefähr acht Jahre alt - habe ich begonnen, mir Geschäfte in den Bezirken außerhalb des Gürtels auszusuchen - dort, wo man mich nicht kannte. Ich bin hineingegangen und habe einen Ausländer gespielt. Ich wollte wissen, wie die Menschen auf mich reagieren …
Welche Ausländer hast du gespielt?
Meistens Franzosen oder das, was ich mir damals als Franzosen vorgestellt habe.
Aber du konntest nicht Französisch?
Nein, ich habe nur Franzosen gespielt …
Hat es für die Außenbezirke gereicht?
Ja, in der Innenstadt wäre ich aufgeschmissen gewesen. Das hat mir ungeheuren Spaß gemacht. Später habe ich auch irgendwelche Phantasiesprachen erfunden, weil ich befürchtete, irgendwann wirklich auf einen Franzosen zu stoßen.
Du hast einmal gesagt: "Ich glaube an die Magie des Lachens, das ist wie ein fliegender Teppich." Wird der Magie des Lachens heute im Theater noch immer dieser Stellenwert gegeben?
Natürlich ist Lachen nicht ein unbedingter Bestandteil eines Theaterabends, aber es sollte zumindest ein fixer Bestandteil jeder Probe sein. Und ich bin mir nicht sicher, ob bei Peymann und Castorf gelacht wird. Und ich spreche nicht von Komödien! Dabei muss nicht gelacht werden, sondern es muss vor allem die Feinmechanik abgestimmt werden. Wenn man jedoch "Romeo und Julia" probt, muss man bei Proben als Gegengewicht lachen können. Man versetzt sich viel leichter in den großen Schmerz, wenn das Lachen vorher die Seele, die Rezeptoren, öffnet.
Gibt es etwas, das du rückblickend - aus heutiger Sicht - anders machen würdest?
Ich habe mir seit meinem ersten Besuch in London im Jahr 1971 gewünscht, dort zu leben. Ich erinnere mich, dass ich damals am Weg zurück nach Wien weinend im Zug saß. Ich war hingerissen von der Stadt und von den Theatern. Wenn es möglich war, bin ich sogar zweimal am Tag in eine Vorstellung gegangen. Es war für mich überwältigend, Schauspielgrößen wie Alec Guinness, Anthony Hopkins oder Laurence Olivier auf der Bühne zu sehen. Diese drei Wochen in London sind mir bis heute unvergesslich. Ich habe allerdings immer geglaubt zu wissen, dass es mir nicht möglich gewesen wäre, in dieser Stadt zu reüssieren. Oder glaubst du, man hätte mich je Shakespeare spielen lassen?
Na ja? Vielleicht hättest du konsequenter daran glauben müssen …
Ich hatte nie diese Entschlusskraft zu sagen: "Ich bleibe in London, weiß zwar nicht, wovon ich leben soll, aber ich versuche mein Glück."
Immerhin konntest du zu dieser Zeit ja bereits in Wien die Bequemlichkeit deines Erfolges genießen?
So bequem war es damals noch nicht, aber ich wusste zumindest, dass ich in meiner Geburtsstadt Wien gut überleben werde. Mich in dieses Abenteuer "London" zu stürzen, dazu war ich auch mit 26 Jahren nicht bereit …
Aber denkt man rückblickend nicht manchmal, man hätte sich an einer Weggabelung des Lebens nicht für die rechte, sondern die linke Abzweigung entscheiden sollen?
Doch, natürlich. Aber dieser Wunsch war zu weit hergeholt. Dafür hatte ich weder die Phantasie, noch den Mut, noch die Entschlusskraft … Aber bereut habe ich es nie, dazu war mir diese Idee zu wenig real. Zwei Dinge, die ich nie gemacht habe - vielleicht sogar aus einer leichten Arroganz heraus -, aber gerne getan hätte, war ein Theater zu leiten und zu unterrichten. Ich dachte immer, man wird mich schon fragen. Ich wollte mich nie bewerben, ich wollte gefragt werden.
Aber das kann ja noch kommen?
Es ist schon relativ spät …
Würdest du Ja sagen, wenn man dich heute fragt?
Kommt darauf an, wer fragt. Auch als ich zuletzt dazu aufgefordert wurde, nach Harald Serafin die Seefestspiele Mörbisch zu leiten, und die Bewerbung dafür hätte scheiben sollen, habe ich es nicht getan.
Aus Eitelkeit?
Ich weiß nicht, ich bin eigentlich kein eitler Mensch, aber ich dachte immer, wenn mich jemand engagieren will, dann wird er schon kommen. Ich wollte keine Bewerbung dafür schreiben …
Hattest du nach 27 Jahren Mitglied im Ensemble des Theaters in der Josefstadt ein klein wenig das Gefühl, dass man dich zumindest hätte fragen sollen, ob du Direktor werden möchtest?
Nein.
Aber bleibt "die Josefstadt" nicht immer dein Theater?
Nein. Wären die Menschen von damals noch in diesem Theater, dann ja.
Hast du denn nicht ein wenig das Gefühl von Heimat, wenn du in das Theater in der Josefstadt oder in die Kammerspiele hineingehst?
Nein, überhaupt nicht. Ich gehe an "der Josefstadt" vorbei wie an meiner Volksschule. Ich habe nach dem Tod von Ernst Haeusserman im Jahr 1984 gedacht: "Eigentlich könnte man mich jetzt fragen, ob ich Direktor werden möchte." Dem war aber nicht so … und was nicht ist, ist nicht.
Hattest du denn auch nie eine Rolle, die du unbedingt spielen wolltest?
Doch eine, jene des Willy Loman in dem Stück "Tod eines Handlungsreisenden". Und dieser Wunsch wurde mir ja oder diesen Wunsch habe ich mir ja erfüllt.
Und du hast heute mit 66 Jahren nicht noch den Wunsch, diese oder jene Rolle zu spielen, diese oder jene Inszenierung zu machen?
Doch, ich würde gerne "Sweeney Todd" inszenieren, konnte jedoch noch keinen Theaterdirektor davon überzeugen …
Jetzt drehst du vor allem fürs Fernsehen. Ist die Theatersehnsucht noch immer da?
Ja, die ist ungebrochen vorhanden, es ist nur eine Frage der richtigen Konstellation.
Aber du hast noch keine Angst vor dem Lernen des Textes?
Nein, noch nicht.
Wo lernst du Text am besten?
Das kann überall sein. In einem Park, im Kaffeehaus, im Zug, zuhause am Diwan …
Es bleibt in deinem bisherigen Leben also wenig übrig, was du nicht gemacht hast, aber immer gerne gemacht hättest?
Doch es gibt schon einige Sachen, die ich gerne gemacht hätte: ein Instrument zu lernen, zum Beispiel. Aber es gibt nichts, wofür ich wirklich brennen würde. Ich denke, all das, was ich machen möchte, kommt auch auf mich zu. Mein Prinzip war immer, das, was kommt, so gut wie möglich zu machen.
Bist du glücklich?
Als Grundfarbe meines Lebensbildes - ja. Natürlich ist dieses Glück nicht immer ungebrochen … Aber ich würde sagen, mein Leben ist erstaunlich gelungen - und fast das größte Phänomen in diesem Leben sind meine beiden Kinder, die beide mit einer großen, sehr sensiblen sozialen Kompetenz ausgestattet sind und für die Schauspielerei brennen. Bereits während der Ausbildung sind beide viel konsequenter als ich es je war. Mein Sohn hat in den letzten zwei Jahren in der Schauspielschule Krauss keine zehn Minuten des Unterrichts versäumt …
… was man von dir nicht behaupten konnte?
Was heißt zehn Minuten …
Gibt es Sehnsüchte, die du dir unbedingt noch erfüllen möchtest?
Nein. Exotische Wünsche wie "Im Heißluftballon über die Mongolei schweben", "Die Stufenpyramiden der Azteken erklimmen" oder "Im Einbaum den Amazonas durchfahren" - das war mir immer fremd. Ich habe auch mit Orten und Plätzen, an denen ich gerne sein möchte, überwiegend europäische Sehnsüchte … Mich lockt es, im schottischen Hochland spazieren zu gehen oder Dublin kennenzulernen …
Apropos Irland, du warst doch einmal begeisterter Fischer …
Ja, aber das ist vorbei. Mir tun inzwischen die Fische leid, wenn sie so am Haken hängen …
Du bist jemand, der gerne und gut isst. Hast du immer für gutes Essen viel Geld ausgegeben?
Nein. Meine kulinarischen Genusserlebnisse waren immer - und sind es nach wie vor - sehr einfacher Natur. Ich bevorzuge heute noch Speisen, die ich aus meiner Kindheit kenne, in lupenreiner Qualität. Eine Rindsroulade, die mich an jene meiner Großmutter erinnert, macht mich glücklich. Ich bin immer auf der Suche nach dem verlorenen Geschmack …
… und wirst du oft fündig?
Erfreulicherweise immer wieder. Auch heute beim Steinerwirt war der Schweinsbraten sehr gut, aber für mich trotzdem zu mager. Das Problem ist, dass man einfach aus Schweinen, die wie rosa Delphine aussehen, keine anständige Mahlzeit herstellen kann. Ein unfassbar gutes Schweinefleisch habe ich in England gegessen. Es heißt "Old-fashioned Gloucester pork belly" …
Wie bitte?
Ein Schweinebauch, so fett wie heißer Lado. Das habe ich geradezu inhaliert.
Da fällt mir diese wunderbare Geschichte ein, als du deine Eltern nach Plomberg zum Eschlböck eingeladen hast …
Das war Anfang der siebziger Jahre, die Nouvelle Cuisine erreichte gerade die österreichische Küche und für die Nachkriegsgeneration meiner Eltern waren große Portionen das Merkmal einer guten Küche. Die Nouvelle Cuisine war davon natürlich weit entfernt. Manchmal glaubte man ja sogar der Teller sei schmutzig, dabei war es die Vorspeise.
Jedenfalls saß ich mit meinen Eltern beim Eschlböck und auf der Karte stand die Speise "Entenwürfel in Orangensauce". Das irritierte meinen Vater bereits leicht. Dann bestellte er ein kleines Bier. "Tut mir leid", sagte der Kellner "wir haben kein Bier." Daraufhin sagte er mein Vater: "Was? Sie haben Entenwürfel in Orangensauce, aber kein Bier?" Er stand auf und ging.
Zuhause musste meine Mutter einige Dosen "Nuri"-Sardinen aus der Speisekammer holen und wir haben heißhungrig Sardinenbrote gegessen.
Angelika & Michael Horowitz
TISCHGESPRÄCHE
Über Essen, Trinken und die anderen schönen Dinge des Lebens
Amalthea Signum Verlag
ISBN 978-3-85002-758-8
224 Seiten
VK-Preis: 19,90 €
-
Hauptartikel
-
Hintergrund
-
Hintergrund