Stadtspaziergang der Erinnerung
Von Gabriele Kuhn
Spazieren ist für mich mehr als nur gehen. Oft ist es ein Prozess, bei dem sich etwas (auf-)tut. Ich gehe, also fühle ich. Der Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl sprach von einer „Kunst des Spazierengehens“ – vergleichbar mit der ebenso selten geübten Kunst, im Gespräch jemandem zuzuhören, also die Fähigkeit, sich offen zu halten, empfangsbereit zu sein. Wenn ich spaziere, höre ich mir zu. Und den Geschichten, die mir der Ort, an dem ich spaziere, erzählt.
Ich liebe Stadtspaziergänge durch Wien – es ist die Stadt, in der ich geboren bin und in der ich von klein auf lebe. Viel von ihr ist mit vielem, das ich hier erfahren und gefühlt habe, verknüpft. Deshalb kehre ich an bestimmte Plätze immer wieder zurück – als wandernde Wiederholungstäterin, die für sich erkannt hat, dass ihr mancher Ort mehr Erinnerungen und Emotionen schenken kann als alte Fotoalben.
Ein Mal im Jahre schlendere ich durch jene beiden Gassen in Ottakring (16. Wiener Gemeindebezirk), in denen ich als Kind und Jugendliche gelebt habe. Vieles hat sich dort verändert, aber vor das Veränderte schiebt sich – wie eine Kulisse – was damals war. Ich sehe den dicken Wirten vom Eck und schmecke Limonade. Ich rieche das frische Brot von der Milchfrau gegenüber. Beide existieren längst nicht mehr, aber in meinem Kopf sind sie da, wenn ich dort bin. Und mit ihnen alle Gefühle – das Glück und Leid von einst.
Manchmal höre ich dabei tatsächlich die Stimme meiner Mutter oder der Nachbarin, die mit mir auf die Hameau Wiese im Wienerwald Ski fahren gegangen ist. Beide sind schon lange tot. Aber der Ort schenkt sie mir für Momente wieder.