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Politikverdrossenheit der Jugend: Mythos auf dem Prüfstand

12:30 Uhr auf dem Bahnhof in St. Pölten. Immer mehr Menschen versammeln sich auf dem Platz. Insgesamt werden 2 000 Teilnehmer für die heutige Protestaktion erwartet. Unter den verschiedenen Gruppen befinden sich vor allem junge Menschen, auch einige Schüler*innen sind vor Ort. Fast jeder hält ein Plakat mit Aufschriften wie „Für Klimaschutz und Menschenrechte“ in der Hand. Langsam setzen sich die Demonstrierenden in Bewegung und werden immer lauter. „Wir wollen jetzt ein Klimaschutzgesetz“, schreien sie im Chor. Gemeinsam mit Sprecher*innen und Musiker*innen gehen sie in Richtung Landesregierung, wo die Zwischenkundgebung stattfinden wird. Die Bühne ist bereits aufgebaut und alle Banner sind platziert.

Johanna Frühwald, 24 Jahre alt, ist Teil der Klimabewegung „Friday’s for Future“ und hat die heutige Veranstaltung mitorganisiert. Mit Politikverdrossenheit hat der Demonstrationszug nichts zu tun, wie sie findet.

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Aktivismus bringt politische Teilhabe zurück

„Ich glaube, dass wir gerade eine Generation sind, die wieder sehr, sehr, sehr politisch ist“, sagt Johanna Frühwald in Bezug auf den Aktivismus. Menschen leisten zivilen Widerstand, gehen auf die Straße, sind laut und veranstalten Protestaktionen, um Forderungen an die Regierung zu stellen. Demonstrationen sind heutzutage eine präsente Form der politischen Teilhabe. Das sehe man vor allem an der „Fridays for Future“ Bewegung, die sehr stark von der Jugend ausgehe. Schon 13- oder 14-jährige Schüler*innen schließen sich der Gruppe an. „Es ist wirklich faszinierend, was die schon für politisches Verständnis haben“, so Frühwald.

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Aktuelle Daten des vom SORA-Institut durchgeführten Jugenddemokratiemonitors bestätigen, dass der Trend, an Demonstrationen teilzunehmen, für junge Menschen nach oben geht. 2022 gab mit 31 Prozent ziemlich genau ein Drittel aller befragten jungen Menschen an, innerhalb der letzten fünf Jahre auf die Straße gegangen zu sein. Im Jahr zuvor waren es sogar 33 Prozent, 2018 hingegen noch 27 Prozent.

Johanna Frühwald betont, dass die Generation Z für Entscheidungsträger*innen manchmal sogar zu politisch sei. Die Aktionsform der politischen Teilhabe werde als zu aufmüpfig und unpassend eingestuft: „Diese zwei Extreme finde ich spannend: Entweder wir sind politikverdrossen oder wir sind zu politisch und unsere Art und Weise, wie wir politisch partizipieren, passt nicht in unser System. Genau dieses Mittelding, dass man ja nicht zu laut ist, aber auch nicht zu leise, gibt es glaube ich nicht.“

Im Gegensatz zur aktivistischen Teilnahme ist das Schreiten zur Wahlurne unter den jungen Menschen im Lauf der letzten Jahre zurückgegangen. 2018 gaben 76 Prozent an, innerhalb der letzten fünf Jahre ihre Stimme abgegeben zu haben. 2022 waren es ganze zehn Prozent weniger. Verglichen mit anderen Formen ist das Wählen dennoch die häufigste Art der politischen Beteiligung. Zu genaueren Daten des Nichtwähleranteils unter den Jugendlichen, beispielsweise bei der niederösterreichischen Landtagswahl 2023, gibt es laut SORA keine verlässlichen Angaben.

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Parteipolitik ist nicht repräsentativ

Die Aktivistin erwähnt, dass sich viele Jungwähler*innen von keiner Partei zu 100 Prozent repräsentiert fühlen. Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier sieht in aktivistischen Bewegungen zwar keine neue, große Form der politischen Teilhabe junger Menschen, aber in diesem Punkt kann er Frühwald zustimmen. „Die Jugendlichen sind der Ansicht, dass sich Politiker um ihre Anliegen einfach nicht kümmern. Für die Bereiche, die sie beschäftigen, sehen sie durch die Politik keine Unterstützung“, so der  Jugendforscher.

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Einer Studie vom SORA-Institut zufolge sehen sich 2022 nur sechs Prozent der 16- bis 26-Jährigen gut von der Politik vertreten. Gründe für das mangelnde Vertrauen würden vor allem den multiplen Krisenerfahrungen samt ihren Folgen geschuldet sein. Im Jahr 2022 denken nur 48 Prozent der jungen Menschen, dass das politische System in Österreich gut funktioniert. Das ist der niedrigste Wert seit Erhebungsbeginn 2018. „Das Vertrauen der jungen Menschen in die Politik ist erschüttert“, erklärt Heinzlmaier. Auch die Bewertung der Demokratie Österreichs ist 2022 so schlecht wie nie zuvor. 39 Prozent der Befragten stufen die Demokratie als „eher schwach“ ein. Allein im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Plus von 12 Prozentpunkten.

Laut Heinzlmaier würde es sich für Politiker*innen aber auch nicht lohnen, sich mehr auf die Jugend zu fokussieren. „Wenn alle jungen Menschen eine Partei wählen würden, würde sich das Ergebnis nur um wenige Prozent verschieben. Die Jungen entscheiden die Wahlen nicht. Die Wahlen entscheiden die über 60-Jährigen“, interpretiert er eine mögliche Ignoranz seitens der Entscheidungsträger*innen.

Politikerverdrossenheit statt Politikverdrossenheit

Der Jugendforscher spricht weniger von Politikverdrossenheit, dafür aber von einer Politikerverdrossenheit. Diese Auffassung vertritt er nicht allein. Auch Politikberater Thomas Hofer stimmt dem Phänomen zu.

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Ihm zufolge gäbe es sicherlich keine Politikverdrossenheit im Sinne von: „Die interessiert das alles nicht, die sind dafür nicht erreichbar.“ Der ehemalige Profil-Journalist ortet jedoch eine Politikerverdrossenheit und auch eine Verdrossenheit in der Art und Weise, wie Politik gemacht wird.

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Der Politikberater warnt zudem vor einer zu schnellen Pauschalisierung der einzelnen Altersgruppen, wenn es um ihr Politikinteresse geht. Junge Menschen, genauso wie Ältere, seien eine „heterogene“ Gruppe, in der es sehr engagierte Personen gibt, aber auch jene, die Politik weniger interessiert.

Die Kommunikation muss sich ändern

Laut Hofer ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, auf welchen Kanälen, mit welchen Themen und mit welchen Ansätzen man die Teilhaberate nach oben bringen kann. Der Politexperte sieht in der Art der politischen Kommunikation großen Verbesserungsbedarf. Heutzutage könne man nicht mehr nur über die „alten Kanäle“ wie Plakate oder TV-Spots kommunizieren. Stattdessen müssten sich die österreichischen Politiker*innen mit immer wieder neu entstehenden Kanälen, auf denen primär Jugendliche aktiv sind, vertraut machen.

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Ein 2022 durchgeführter Jugenddemokratiemonitor der Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm zeigt auf, welche Informationsquellen die Jugend für politische Themen nutzt. Für Personen im Alter zwischen 14 und 30 Jahren sind die Top drei Quellen das Internet (69 Prozent), das Fernsehen (55 Prozent) und Social Media (52 Prozent). Bei jungen Frauen liege Social Media sogar noch vor dem Fernsehen. Experten zufolge werden soziale Medien für Jugendliche immer wichtiger. Unter all jenen, die sich über Social Media informieren, zählen Instagram, Facebook und YouTube zu den beliebtesten Kanälen. „Die ‚Zeit im Bild‘ auf Instagram ist der Teletext einer neuen Generation“, so Plakolm. Instagram nutzen mehr als zwei Drittel der befragten Jungwähler*innen.

„Wenn ich neue Zielgruppen finden will, dann muss ich mich auch an sie anpassen, auch in der Form der Kommunikation“, sagt Hofer. Es brauche jedoch immer eine gewisse Seriosität, man dürfe es nicht „verblödeln“. Von der Art der Aufmachung der Botschaften, der Ansprache und auch der Diskursfähigkeit müsse sich jedenfalls etwas verändern, betont der Politikberater. 

Das Interesse an Politik besteht

Aus dem Jugenddemokratiemonitor geht des Weiteren hervor, dass junge Menschen sehr wohl Interesse am politischen Geschehen haben. 89 Prozent der Befragten gaben an, sich für Politik zu interessieren. Fast 50 Prozent wünschen sich, politisch mehr mitwirken zu können. Anna Dinhobl ist 24 Jahre alt und selbst in einer parteipolitischen Jugendorganisation aktiv. Bei der niederösterreichischen Landtagswahl 2023 war sie die jüngste Kandidatin. Auch ihrer Meinung nach sei es besonders wichtig, dass man Jugendlichen Gehör schenkt. „Es braucht mehr Plattformen für junge Menschen. Auch auf Gemeindeebene“, kann sie sich Hofers Meinung anschließen.

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Bei den Erhebungen für den Jugenddemokratiemonitor wurde deutlich, dass es in der Altersgruppe bis 19 die größte Ablehnung gegenüber politischen Ämtern und Parteimitgliedschaften gibt. Gerade einmal 40 Prozent der befragten Personen zwischen 14 und 19 Jahren können sich vorstellen, Mitglied einer Partei zu werden. Für Dinhobl stehen junge Menschen vor einigen Herausforderungen, wenn sie sich dazu entscheiden, aktiv zu werden. „Es ist ein großer Schritt für viele zu sagen: ‚Ich engagiere mich jetzt politisch.‘ Ab dem Zeitpunkt, wo man etwas Politisches macht, ist man auch exponiert.“.

Mit niederschwelligen Angeboten zur Kontaktaufnahme wolle man zumindest die Hemmschwelle „in Kontakt treten“ minimieren. 2021 hat das Sozialforschungsinstitut SORA einen Bericht zum Thema „Junge Menschen und Demokratie“ veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass sich neun Prozent der 300 befragten Personen in einer politischen Organisation engagieren. 31 Prozent gaben hingegen an, in einer Blaulichtorganisation aktiv zu sein. Warum sind also politische Organisationen nicht mehr beliebt bei jungen Menschen? Einerseits brauche es mehr Diversität im politischen Betrieb, andererseits sei man exponiert. „Dadurch macht man sich angreifbar und das ist für viele unattraktiv“, meint die Jungpolitikerin.  

Begeisterung für Politik startet im Klassenraum

Sowohl das politische Interesse als auch Möglichkeiten des politischen Engagements sollten jungen Menschen daher so früh wie möglich nähergebracht werden: und zwar bereits in der Schule. Manfred Weigert ist Direktor der Bundeshandelsakademie für Führung und Sicherheit in Wiener Neustadt und unterrichtet gleichzeitig das Fach Geschichte und politische Bildung. Neben Frühwald, Heinzlmaier und Hofer sieht auch Weigert in der Politikverdrossenheit der Jugend einen klaren Mythos.

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Besonders wichtig ist es dem Direktor, das politische Interesse in den Schüler*innen zu wecken. Da gäbe es verschiedene Zugänge: „Ich glaube, schon alleine das ständige darauf hinweisen und das immer wieder anzusprechen, dass die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, da mitzusprechen, ist schon ein ganz guter Zugang. Das zwingt die Schülerinnen und Schüler auch dazu, sich mit dem Themenbereich zu beschäftigen.“

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Mit politischen Themen beschäftigen würden sie sich dem Jugenddemokratiemonitor zufolge ja hauptsächlich via Social Media. „Social Media in der Politik ist ein Fluch und Segen gleichzeitig“, meint Weigert. Laut ihm ist es ein großer Vorteil, dass durch soziale Medien vor allem junge Menschen einen viel leichteren Zugang zum politischen Geschehen haben und am politischen Diskurs einfacher teilnehmen können. Als negativ empfindet er jedoch, dass die dort kursierenden Meinungen und Behauptungen unerklärt bleiben und von jungen Menschen häufig ohne hinterfragen angenommen werden. So verbreitet sich schnell Falschwissen, das einfach als eigene Meinung angenommen werde, weil es schön klinge.

Paradoxerweise gehen Influencer*innen und Social Media aus dem Demokratiemonitor als die am wenigsten glaubwürdigen Informationsquellen hervor. 35 Prozent der befragten zwischen 14- und 30-Jährigen halten Influencer*innen für unglaubwürdig, bei Social Media sind es 17 Prozent.

Weigert sieht das sehr problematisch: „Es fehlt da klar das Erklärungsmuster und die Erklärungsmöglichkeit dahinter.“ Als Lehrerin oder Lehrer steige hier die Verantwortung, eine gute Basis der politischen Bildung zu liefern. Außerdem müssten im Unterricht derartige Falschaussagen erklärt und richtiggestellt werden, um den Schüler*innen eine Orientierung zu geben. „Das ist eine der wesentlichen Aufgaben für mich als Lehrer“, so Weigert. Schließlich haben die Kinder, die er unterrichtet, auch bald das Recht zu wählen.

Für die Jugend wichtige Themen finden kein Gehör

Ein Stimmungsbild in der Wiener Neustädter Innenstadt zeigt allerdings, dass sich nicht alle Jungwähler*innen von der Politik gehört fühlen. Damit bestätigen sie die Aussagen von Frühwald und Heinzlmaier.

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Der Jugenddemokratiemonitor des SORA-Institutes besagt, dass die Jungen 2022 das Thema Teuerung am meisten beschäftigt hat. Das gaben 49 Prozent der Befragten an. Auf Platz zwei und drei liegen der Klimawandel mit 22 Prozent und die Schere zwischen Arm und Reich mit 19 Prozent. JVP-Obmann Harald Zierfuß räumt ein, die allgemeine Wahrnehmung der Politik könnte sich in den letzten Jahren vor allem durch beschlossene unpopuläre Maßnahmen verschlechtert haben. „Wir müssen jetzt wieder daran arbeiten, das Vertrauen in die Politik zu stärken“, knüpft er an Heinzlmaiers Aussage zu Jugend und politischem Vertrauen an.

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Politisches Engagement ist erwünscht

Paul Stich, Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Österreich, ist der Ansicht, dass gerade die Corona-Pandemie die Jugend stark politisiert und die Meinung zur politischen Auseinandersetzung angeregt habe. Junge Menschen bräuchten einen „Moment“, der sie in die Politik hineinzieht. Nachdem das Thema „Klimawandel“ in der Jugendstudie hinsichtlich Interessensgebiet an zweiter Stelle liegt, kann gewiss auch die Präsenz der Demonstrationen von „Fridays for Future“ und „Letzte Generation“ ein solcher Moment gewesen sein. Für Jugendbewegungen gehe es laut Stich am Ende darum, wie man gesellschaftliche Mehrheiten gewinnen kann. Deswegen seien sie im politischen Prozess nicht nur Johanna Frühwald zufolge, sondern auch seiner Meinung nach sehr wichtig. 

Die Aktivistin und der Parteipolitiker sind sich außerdem in einem anderen Punkt einig: Sie begrüßen politisches Engagement der Jugend auf allen Ebenen – sowohl parteipolitisch als auch aktivistisch. „Für all jene, die etwas bewegen wollen, empfehle ich, beides zu tun“, sagt Zierfuß. Johann Frühwald kann da anknüpfen. „Ich würde jede Person dazu animieren, sich in irgendeiner Form zu beteiligen und politische Räume weiter zu denken. Politisches Engagement ist ja ganz vielfältig.“

Marie Lachnit, Gruppe 64