Lesestoff/lesestoff 3ff

Den Neusiedler See retten – lohnt sich das noch?

Der Verkehr steht still. Statt den Klimaklebern blockieren jedoch 40 Traktoren die Straßen in Jois. Es handelt sich hierbei aber nicht um eine kuriose Landwirtschaftsmesse. Es ist vielmehr ein Hilfeschrei: Die Bauern im Burgenland wollen wachrütteln – der Neusiedler See muss schnellstmöglich gerettet werden, sonst droht auch der Landwirtschaft das Aus.

Das skurrile Bild des Traktorprotests verdeutlicht: Es ist fünf vor zwölf für die Menschen im Nordburgenland. Neben verehrenden ökologischen Folgen bangt die Bevölkerung um ihre Existenzen: Der Tourismus der Region hängt stark an den Badegästen und Besucher:innen des Nationalparks. Weinbauern bangen um ihre Ernte, denn ohne See, kein Wein. Es gibt keine Zukunft für die Landwirtschaft, wenn weiter in der Untätigkeit verharrt wird – doch eine Frage beschäftigt alle: Soll man überhaupt etwas tun?

Fragt man die Menschen im Burgenland, ist die Antwort ein fast einstimmiges Ja. Betroffene aus Landwirtschaft und Tourismus plädieren für eine Rettung, ebenso die Politik. Amtsträger:innen der Gemeinden um den See arbeiten gemeinsam an raschen einer Lösung. Aus einem ungarischen Nebenarm der Donau könnte Wasser in den Neusiedler See gepumpt werden. Das wird von den Betroffenen vor Ort als eine gute Idee befunden, auch von Michaela Wohlfahrt, Bürgermeisterin (ÖVP) der Gemeinde Podersdorf.

Sie ist fest entschlossen: „Wir können uns nicht zurücklehnen und uns darauf verlassen, dass der Regen kommt. Wir müssen jetzt handeln.“ Ein Termin mit den zuständigen Behörden in Ungarn sei deshalb festgelegt worden, um eine Zuleitung aus dem Nachbarland zu besprechen. Sie hat auch die Bürgermeister:innen der 13 Seegemeinden sowie die zuständigen politischen Entscheidungsträger:innen zu einer Diskussionsrunde eingeladen. Auf die Frage, ob die Gefahr der Austrocknung die größte ihrer Amtszeit sei, antwortet Wolfahrt: „Es ist die größte, weil man sie nicht selbst in der Hand hat und wir es gemeinsam schaffen müssen.“

Gespaltene Meinungen zur Seerettung

An einem Strang zu ziehen ist in der Politik nicht immer umsetzbar. Anders als Poderdorf ist der Tourismus der Gemeinde Illmitz nicht ausschließlich von den Badegästen abhängig. Das Alleinstellungsmerkmal der Ortschaft ist der Nationalpark Seewinkel. Wassersport spiele laut dem Bürgermeister Maximilian Köllner (SPÖ) zwar eine untergeordnete Rolle, aber durch den Nationalparktourismus sei Illmitz ebenso auf den See angewiesen. Auch er plädiert für einen Eingriff in das Ökosystem, um den See zu retten. „Ich bin der Meinung, dass eine Zuleitung jetzt wichtig wäre“, so der SPÖ-Abgeordnete.

Viele Existenzen seien in Illmitz vom See abhängig. Doch die Stimmung in der Seewinkel-Ortschaft ist insgesamt zwiegespalten: „Der Tourismus in Illmitz braucht den See an sich nicht“, meint Gerhard Haider, Geschäftsführer des Tourismusverbands Illmitz. „Das sind andere touristische Ausrichtungen und das ist auch gut so. Niemand wird sagen, dass eine Austrocknung positiv ist. Aber wir sind aufgrund der Lage durchaus weniger betroffen“. Dennoch sei die derzeitige Lage des Sees das einzige Thema. „Wir haben wöchentliche Sitzungen, aber es gibt keine einfache Lösung.“

Alle Inhalte anzeigen

Für die Natur ist eine Austrocknung keine Katastrophe, sondern Teil eines natürlichen ökologischen Prozesses, so die Umweltorganisation „Alliance for Nature“. Sie ist einer der Player der Debatte, die vor einer erheblichen Schädigung des Naturraums durch eine Zuleitung warnt. Auch der Umweltverband WWF spricht sich dagegen aus Donauwasser in den See zu leiten. Der See brauche regelmäßige Trockenphasen, damit sich das Ökosystem erholen kann. Der Steppensee lebe von den Extremen und reguliere sich seit Jahrhunderten selbst so der WWF.

Alle Inhalte anzeigen

Viel Sonne, wenig Regen

Dass der See aktuell vor einer vollständigen Austrocknung steht, ist nämlich eigentlich nichts Neues. Schwankende Wassertiefe ist typisch für den Steppensee und statistisch gesehen findet eine Austrocknung etwa alle hundert Jahre statt. Der Neusiedler See war von 1865 bis 1870 sogar schon einmal für mehrere Jahre vollkommen ausgetrocknet. Auch 2003 hatte das Gewässer unter einer außergewöhnlichen Trockenperiode gelitten und verzeichnete einen Tiefstand.

Der Wasserstand des größten Sees Europas ohne Abfluss, ohnehin nur maximal zwei Meter tief, regelt sich im Wesentlichen über Niederschlag und Verdunstung. Doch in den letzten beiden Jahrhunderten hat sich nicht bloß der Pegelstand des „Wiener Meers“ verändert: Seit der industriellen Revolution werden täglich Unmengen an CO2 in die Atmosphäre ausgestoßen. Damit einher geht eine rasche Erwärmung, die für viele Lebewesen und Ökosysteme enormen Stress bedeutet. Wenngleich das Argument des WWF historisch betrachtet also nicht falsch ist, gibt es einen wesentlichen Unterschied: den Menschen.

Der fehlende Niederschlag in vielen Regionen dramatisiert die Situation nochmal erheblich. Trockene Winter wie 2022 und 2023 seien Ausnahmen, trockene Sommer jedoch nicht, erklärt ORF-Meteorologe Daniel Schrott: „Das Subtropenhoch reicht vom Mittelmeerraum weiter in den Norden. In den Alpen wird das Klima dann so wie im Apennin.

Dort ist es im Sommer auch bis auf ein paar lokale Wärmegewitter schon jetzt einfach trocken. Weil es wärmer wird, und wärmere Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann, steigt das Potential für Starkregen. Es regnet also seltener, aber wenn es regnet, dann heftiger.“ Der anomale Trockenheitstrend habe bereits 2021 eingesetzt und seither vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über den Steppensee berichtet wird: Zu viel steht auf dem Spiel für Natur und Mensch.

Verschwindet der See, verschwindet der Tourismus?

Durch die höheren Wasserstände hatte der See auch die Möglichkeit, sich in feuchten Jahren Wasserreserven aufzubauen, aus dem er dann in trockenen Jahren zehrte. Da Steppenseen generell sehr seicht sind, ist jeder weitere Zentimeter Wassertiefe, der zurückgeht, eine Herausforderung für ansässige Schifffahrtsunternehmen „Jeder Pool ist tiefer als unser See“, sagt Stefan Knoll, Eigentümer des Familienbetriebs „Schifffahrt Knoll“.

Die Entwicklungen der letzten Jahre beeinflussen das Geschäft. Starke Winde wirken sich zusätzlich auf den ohnehin schon niedrigen Wasserlevels aus. Die Wasserverschiebungen erfordern kurzfristiges Planen – nicht jede Fahrt am See könne so einfach bestritten werden wie früher. Bei niedrigen Wasserniveaus brauche man beinahe eineinhalb Stunden, um von Rust nach Podersdorf zu fahren. Bei einer durchschnittlichen Tiefe von 1,60 bis 1,80 Meter sei es möglich dieselbe Strecke in weniger als einer Stunde zurückzulegen. Aktuell sei eine schnelle Überfahrt in den Hafen nicht möglich.

Alle Inhalte anzeigen

„Wir leben alle irgendwie vom See“, meint der Unternehmer. Infrastruktur sei durch den Tourismus geschaffen worden. Podersdorf verzeichnet am meisten Nächtigungen um den See jährlich. Das „Meer der Wiener“ ist auch bei ausländischen Gästen beliebt, wie Hotelier Patrick Posch berichtet. Fehlt die Abkühlungsmöglichkeit im Sommer, würde sich das laut dem Podersdorfer in den Nächtigungszahlen widerspiegeln. Auch in Illmitz profitiert man von der Nähe zum Gewässer.

Zwar ist der Ort ein populäres Ziel für Heurigenbesuche und Radtouren, aber ganz ohne Wasser geht es trotzdem nicht. Die Fähre nach Mörbisch oder ein Abstecher zum See seien trotzdem gefragte Aktivitäten. Wichtig ist der Neusiedler See außerdem für die Fauna der Umgebung. „Die Gäste, die zur Vogelbeobachtung im Nationalpark anreisen sind enttäuscht, weil es jetzt weniger [Anm. Vögel] gibt“, erzählt Gastronom Otto Egermann aus Illmitz. Angesichts des niedrigen Wasserstandes müsse das Tourismusangebot erweitert werden – etwa Golfen, Reitsport oder Wellness.

Alle Inhalte anzeigen

Neben dem Nationalpark bildet der Wassersport das Herzstück des Seetourismus. Seit Ende der 1980er Jahre ist der Neusiedler See als Surfrevier bekannt. Unterschiedliche Surfstile benötigen verschiedene Wasserstände – die gegenwärtige Situation bereitet auch beim Wassersport Sorgen. Seit über 20 Jahren findet das Surf Opening am Neusiedler See statt, zu dem zahlreiche Surfer:innen aus In- und Ausland anreisen. Der See zeichnete sich durch verlässliche Bedingungen für die Wettkämpfe aus. „Jedes Jahr gab es hier ein Ergebnis, das ist bei viel bekannteren Plätzen oft weggefallen“, weiß Windsurfer Marcus Kleber aus erster Hand. Ob das in künftig noch zutrifft, ist ungewiss: Bewerbe des Slalom-Surfens und Segelregatten mussten diesen Mai abgesagt werden.

Alle Inhalte anzeigen

Ungewisse Zukunft

Während der Tourismus andere Optionen abwägt, tun sich die Bauern der Region weitaus schwerer. Landwirtschaft wie heute wird im Seewinkel künftig unmöglich sein. In der „Genussregion“ wurden bisher Gemüsesorten wie Zuckermais und Zucchini angebaut. Besonders erste Sorte, aber auch für Sonnenblumenkerne wird viel Bewässerung benötigt. Die Bauern stehen mit dem Rücken zur Wand. Ein Umstieg auf weniger bewässerte Kulturen benötige mehr Anbaufläche, um für Bauern ähnlich ertragreich zu sein. Für viele Landwirte würde sowohl eine Umstellung als auch die Austrocknung des Sees ein Todesstoß sein.

Neben Gemüse bot die Region Weinliebhaber:innen und Tourist:innen köstliche Süßweine an. Damit ist aber bald Schluss, denn für die Winzer wir es eng. Das pannonische Klima und der Boden eigneten sich ideal für den Weinbau. Ausbleibender Niederschlag und sinkende Wasserspiegel sind auch verheerend für die Rebenlandschaft. Der Bewässerungsaufwand wird mehr, die Perspektive für die Zukunft weniger. Sollte der See austrocknen, besteht erhöhte Gefahr von Salzstürmen, die sich wiederum auf die Lebensqualität auswirken. Unter diesen Bedingungen wäre Weinbau kaum noch möglich.

Alle Inhalte anzeigen

Doch niemand weiß genau, was in nächster Zeit tatsächlich passieren wird – es kann sein, dass die Trockenperiode anhält und diese Schwankungen durch den Klimawandel weiter verstärkt werden. Es kann auch sein, dass wieder mehr Regen kommt und das Problem eindämmt. Egal welches Szenario eintreten wird – es braucht ein nachhaltiges Konzept, um das Fortbestehen des Steppensees zu garantieren. Zahlreiche Lösungsvorschläge sind im Umlauf. Die Rettung des Sees stagniert dennoch. Helmut Habersack, Professor am Institut für Wasserbau, Hydraulik und Fließgewässerforschung an der Universität für Bodenkultur Wien, plädiert für eine genaue Überprüfung sämtlicher Konzepte. „Eine unpassende Strategie richtet mehr Schaden an als sie Nutzen hat“.

Das Wesen eines Steppensees ist, dass er unmittelbar von den Niederschlägen abhängt. Ein wesentlicher Unterschied zu den Seen im Alpenvorland, die maßgeblich vom Zufluss abhängen. Aber der Neusiedler See hat abgesehen von der Wulka keine nennenswerten Zuflüsse mehr. Wenn Steppenseen wie der Neusiedler See austrocknen, dann regnet es zu wenig und es verdunstet gleichzeitig zu viel Wasser, sprich die Wasserbilanz ist negativ. Häufig diskutiert wird deshalb eine Wasserzuleitung in den See, um die die Wasserstände anzuheben. Was nach einer naheliegenden Lösung klingt, ist weitaus komplizierter.

Maßnahmenmix

Die Debatte um die Seerettung wird weiter befeuert: Man ist sich nicht nur uneinig, ob die Menschheit weiter in das Seesystem eingreifen soll, sondern auch darüber, wie das getan werden könnte. Um den Steppensee zu erhalten, braucht ein nachhaltiges Konzept. Eine Wasserzuleitung der ungarischen Moson-Donau gilt als das wahrscheinlichste. Zusätzlich werden andere Maßnahmen wie die „Entschilfung“ des Sees und das Schlammsaugen – ein kosmetischer Eingriff – diskutiert.

In das sensible System des Neusiedler Sees wurde per Menschenhand bereits zahlreich eingegriffen. Als der Steppensee im 19. Jahrhundert ausgetrocknet ist, wurde er von kleinen Flüssen wieder bespeist. Heute ist das nicht mehr möglich – mit der Regulierung von Raab und Rabnitz wurde ein künstlicher Abfluss des Sees geschaffen. In der Vergangenheit befüllten diese den Neusiedler See bei Hochwasserereignissen von unten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Diesen Eingriff einfach aufzuheben sei ebenso wie eine Zuleitung mit Donauwasser leichter gesagt als getan.

Alle Inhalte anzeigen

„Die Bedingungen sind nicht dieselben wie vor zweihundert Jahren. Schwebstoffe würden in den See dringen und eine Bedrohung für das sensible Ökosystem darstellen“, erklärt Habersack. Durch die anthropogenen Einflüsse könnten etwa Schwermetalle und Pestizidrückstände aus der Landwirtschaft durch die Strömung in den Neusiedler See transportiert werden. Auch ein erhöhtes Vorkommen von Mikroplastik in der Donau könnte eine Bedrohung für die Seeumwelt sein. „Sind diese Stoffe erstmal im Neusiedler See, kann man sie schwer bis gar nicht wieder aus dem Wasser filtern“, so der BOKU-Professor.

Eine Wiedereinbindung von Feuchtgebieten beziehungsweise ein Zulauf der Donau müsse deshalb unbedingt im Vorfeld durch präzise Simulationen, Modelle und Hochrechnungen abgeklärt werden. Gegenwärtig birgt diese Option mehr Risiken als Chancen. Die Untersuchungen seien laut Habersack noch nicht ausreichend. „Es muss ohnehin ein Maßnahmenpaket geschnürt werden, das mehrere Bereiche abdeckt“, meint Habersack.

Das Schilf als Herausforderung

Neben dem geringen Niederschlag wird die zunehmende Ausdehnung des Schilfgürtels dem Steppensee zum Verhängnis: es verdunstet deutlich mehr Wasser als andere Pflanzen, weshalb noch mehr Niederschlag nötig wäre. Würde der Schilfgürtel um ein Drittel minimiert werden, könnte das dem Gewässer ein Plus bis zu 10cm Wasserstand jährlich einbringen. Der Haken: aufgrund des Luftreinhaltegesetzes darf Schilf nicht niedergebrannt werden.

Bis ausreichend Messwerte überprüft werden können um zu handeln, könnte vom Neusiedler See nur noch eine Sandwüste übrig sein. Dieses Schicksal ereilte bereits den Zicksee – eine von einst 140 salzhaltigen Lacken rund um den See. Damit es nicht so weit kommt, arbeitet die Region auf Hochtouren. Im Sommer 2022 wurde ein Pilotprojekt gestartet: das Schlammsaugen. Der Schlamm soll dabei mit einer großen Bürste vom Boden gelöst und dann über eine Transportleitung in ein Sammelbecken gepumpt werden. Diese Methode kann derzeit aber nur lokale Probleme beseitigen. Was letztendlich bleibt ist die Erkenntnis, dass es mehr als einen einzigen Lösungsansatz braucht.

Da, um zu bleiben

Dass die Zukunft des Sees momentan außerhalb vom Burgenland hohe Wellen schlägt, wird von den Menschen um den Neusiedler See nicht gerne gesehen. Die negative Berichterstattung wirke sich laut den Aussagen von Gastronomen und Politiker:innen schlecht auf das Tagesgeschäft aus. Viele Touristen seien verwundert, wenn sie kommen und der See mehr als eine Pfütze ist, so Hotelier Patrick Posch. Negativwerbung, die davon spreche, dass der Neusiedler See ausgetrocknet ist und mit dem Zicksee bebildert ist, sei schlecht für das Geschäft.

Ihm wäre es ein Anliegen, auch die positiven Aspekte zu beleuchten und gleichzeitig für die Erhaltung des Sees zu kämpfen. Das findet auch Helmut Habersack: „Es ist auf keinen Fall zu spät den See zu retten. Wir haben im April 9 Zentimeter Zuwachs an Wasserspiegel bekommen, aber sind immer noch auf historischem Tiefstand. Der April war regenreicher als im Jahr davor.“ Es liege nun an der Politik die notwendigen Schritte zu setzten, dass die Ostregion nicht um die letzten Tropfen des Sees bangen müssen.

Anna Strobl