Wenn man plötzlich 40 Jahre älter ist
Von Evelyn Peternel
Was für eine Farbe soll das sein? Grau? Gelb? Oder ist das Weiß?
Es ist zum Verzweifeln. Vor ein paar Minuten war das noch ganz einfach, Weiß, Gelb, eine Kleinigkeit. Jetzt, durch die Augen einer 75-Jährigen, ist das ein kleines Drama. Ich kann weder Weiß von Gelb noch Grün von Blau unterscheiden. Und dieser komische Boden! Ist das eine Stufe? Oder nur ein Farbunterschied?
"Ganz schön schwierig, nicht?", sagt Beate Baltes zu mir, als ich versuche, in die Hose des Age Explorers zu kommen, in den Altersanzug, der mich plötzlich 40 Jahre älter macht. Helfen will mir die Leiterin des "Age Explorer"-Teams vom Meyer-Hentschel-Institut aus Saarbrücken nicht; schließlich geht es um einen Test unter realen Bedingungen.
Was der Altersanzug alles simuliert, sehen Sie in einer Infografik am Ende des Textes
"Wenn Sie wirklich alt wären, würden Sie das auch selbst machen wollen, oder?", sagt sie. Ich muss nachfragen, meine 75-jährigen Ohren nehmen nur Gebrabbel wahr. Baltes lacht. Der Kopfhörer, den sie mir aufgesetzt hat, lässt mich nur mehr die Hälfte hören, ich muss Lippen lesen.
Nur nicht umfallen
Bei der Hose ist es ähnlich vertrackt. Keine Ahnung, wie ich die erreichen soll, ohne umzufallen. Mit den Gewichtsmanschetten am ganzen Körper habe ich Mühe, gerade zu stehen, von mühelosem Bücken bin ich weit entfernt. Dazu kommt die orange Brille, die Baltes mir aufgesetzt hat. Die lässt mich in eine verkleinerte, vergilbte, verschwommene Welt blicken, die mich zusätzlich unsicher macht. Ich habe Befürchtungen, nicht mehr hochzukommen.
Ich fühle mich so, wie sich knapp ein Fünftel der Österreicher fühlt. Richtig alt.
Frust, Frust, Frust
"Das ist es, wofür wir sensibilisieren wollen", sagt Baltes zu mir. Sie tourt mit dem Anzug durch ganz Deutschland, zeigt jüngeren Menschen, wie "beängstigend und frustrierend solche Einschränkungen sind", wie sie sagt. "Man lernt verstehen, warum ältere Menschen sich zurückziehen. Ihnen ist vieles peinlich." Dabei schüttelt mir die Trainerin die Hand, und ich muss mich zusammenreißen, nicht zu quieken. In die Handschuhe, die sie mir angezogen hat, sind piksende Nadeln eingenäht. Mein Fingerspitzengefühl ist dahin. Und die Vorstellung, ein Smartphone zu bedienen, kommt mir lächerlich vor.
"Ambient Assistant Living" nennt sich das Konzept, mit dem älteren Menschen wieder mehr Eigenständigkeit zurückgegeben werden soll. Mit Herdplatten, die sich nach einer Zeit selbst abschalten (das könnte ich jetzt schon brauchen), einem System, das einen an die Einnahme der Tabletten erinnert, oder Sensoren, die registrieren, wenn man schon zu lange nicht mehr die Kühlschranktür geöffnet hat. Die schlagen dann Alarm, bei Angehörigen oder dem Pflegedienst.
Im Zwiespalt
Die Vorstellung, auf all das angewiesen zu sein, sich von einem Lift aus der Badewanne heben, sich von einer Apparatur füttern zu lassen, ist zwiespältig. Zum einen ist sie enorm weit weg, zum anderen war die Angst davor noch nie so real wie in diesem Moment. "Nicht jeder braucht so viel Hilfe", sagt Beate Baltes zu mir, sie hat mir meine düsteren Gedanken wohl angesehen. Nichtsdestotrotz werden viele von uns darauf angewiesen sein: Österreich wird, wie ganz Europa, immer älter; 2030 ist jeder Vierte über 65.
Mein Ich in 40 Jahren ist also eine grantige Alte, die sich über sich selbst ärgert. Aber die darüber lachen kann. Humor hilft, heißt es, und wer in diesem orangen Alters-Unding steckt, weiß das doppelt zu schätzen. "Auch mit sechzig kann man noch vierzig sein – aber nur noch eine halbe Stunde am Tag", soll Anthony Quinn gesagt haben. Und der ist immerhin 86 geworden.