Wer heuer Chancen auf die SozialMarie hat
Von Uwe Mauch
Unfassbare Geschichten von Menschen, die im sogenannten Maßnahmenvollzug dahinvegetieren: Einer, der wegen leichter Körperverletzung und gefährlicher Drohung verurteilt wurde, saß 37 Jahre hinter Gittern. Ein anderer wurde nach einer Kindheitskarriere im Gefängnis (bei seiner Mutter) und Misshandlungen in einem Kinderdorf wegen eines ähnlichen Delikts weggesperrt und mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Im Vorjahr kam er mit 22 nach sieben Jahren frei und muss nun seinen Pflichtschulabschluss nachholen.
Wenn Markus Drechlser und Manfred Zeisberger (oben) von ihrer ehrenamtlichen Arbeit erzählen, fragen sich Nicht-Insider, ob sich das alles in Österreich zuträgt. Doch die beiden Obleute des Vereins SiM, der sich seit einem Jahr für die Rechte der rund 900 geistig abnormen Rechtsbrecher in den österreichischen Gefängnissen aktiv einsetzen, können alles schwarz auf weiß belegen.
Hoffen auf die Marie
Am Montag soll ihr Engagement gewürdigt werden. Ihr Verein, den sie mit vollem Wortlaut Selbst- und Interessensvertretung im Maßnahmenvollzug nennen, ist für den Preis Sozialmarie 2017 nominiert. "Wir drücken uns selbst die Daumen", sagt Obmann Drechsler augenzwinkernd. "Wir können jeden Euro Preisgeld für unsere Arbeit gut gebrauchen", fügt sein Stellvertreter hinzu. Bisher haben die beiden Helfer und ihr Freiwilligen-Team fast 100 Untergebrachte und 50 Angehörige betreut und beraten. "Das ist dringend notwendig, denn die meisten wissen nicht, was nach einer Verurteilung auf sie zukommt", erklärt Drechsler. "Wir haben auch feststellen müssen, dass ihre Anwälte nicht wissen, dass der Maßnahmenvollzug auf unbestimmte Zeit verhängt wird", klagt Zeisberger.
Der Verein SiM hat aus diesem Grund ein gleichnamiges Buch heraus gebracht (siehe unten). Darin erklären Experten, dass die Idee des Maßnahmenvollzugs grundsätzlich begrüßenswert ist: Geistig abnorme Rechtsbrecher sollen während des Vollzugs keine Freiheitsstrafe abbüßen, sondern therapiert werden und dadurch irgendwann ihre Entlassung erwirken, so die graue Theorie.
Die gelebte Praxis in den österreichischen Justizanstalten sei jedoch eine andere, kritisieren Drechsler und Zeisberger. Für ausreichende Therapie fehlt das nötige Geld, für ausreichende Transparenz oft der Wille der Justizbeamten. Und auch die Qualität vieler Gutachten sei ernsthaft zu hinterfragen.
Es ist kein Wunder, dass sich die Mitarbeiter von SiM mit ihrer Systemkritik nicht nur Freunde im geschlossenen Anstaltensystem machen. Ihr privates Engagement in der Causa beruht auf persönlichen Erfahrungen als teils direkt Betroffene.
Markus Drechsler, heute 42 Jahre alt, hat den Maßnahmenvollzug von 2010 bis 2016 selbst erleben müssen ("und ich war ehrlich schockiert über die kollektive Depression, die ich bei den anderen Untergebrachten am Mittersteig festgestellt habe").
Manfred Zeisberger, 47, kennt wiederum die Erniedrigungen der Weggesperrten als Missbrauchsopfer – nicht nur vom Hörensagen.
Applaus von der Marie
Die Jury für die Sozialmarie würdigt die Arbeit von SiM wie folgt: "Ehemalige Untergebrachte haben ihr Versprechen wahrgemacht und die erste justizunabhängige Anlaufstelle geschaffen. SiM gibt ganz konkret Hoffnung klärt auf und zeigt auch, dass Untergebrachte resozialisierungsfähig sind. Und wie."
Buchtipp
Markus Drechsler (Hg): Maßnahmenvollzug. Menschenrechte. Weggesperrt und zwangsbehandelt, Mandelbaum-Verlag.
Gesucht
Freiwillige, die sich mit Untergebrachten und deren Angehörigen treffen, um sie zu informieren und zu betreuen. Nächste Einschulung: www.massnahmenvollzug.org
Die SozialMarie wird am Montag zum 13. Mal verliehen – an Projekte, "die sozial innovative Lösungen für gesamtgesellschaftliche Problematiken entwerfen und anwenden". Unter den Gewinnern der Vorjahre waren das Kinderhospiz Netz oder PROSA – Projekt Schule für alle.
Trägerin des Preises ist die Unruhe Privatstiftung, die von Wanda Moser-Heindl und Friedrich Moser im Jahr 2000 gegründet wurde. Heuer wurden 200 Projekte eingereicht – aus Österreich, Tschechien, Ungarn, Kroatien sowie aus der Slowakei. Eine der Initiativen: Die Wiener ANECON Gmbh gibt Menschen mit Asperger-Syndrom Arbeit. Mit ihrem Blick für Details und ihrer Konzentrationsfähigkeit testen sie die Software der Firma.