Leben/Gesellschaft

Warum es bei Dating-Apps nicht immer um Sex geht

Eine Trennung verarbeitet jeder anders. Jonas Grünanger, der unter seinem richtigen Namen beim deutschen Boulevardblatt Bild arbeitet, wählte einen ungewöhnlichen Weg: Er reiste durch acht Länder – zuerst durch seine Heimat Deutschland, dann durch das restliche Europa. Jeden Tag traf der 39-Jährige eine andere Frau. Dieser Marathon gelang mit der Hilfe der Flirt-App Tinder (siehe Info unten). Das Pseudonym wählte er wegen seiner Eltern: "Sie sollen stolz auf mich sein. Und im Buch geht es ja auch um Sex." Wie nahe er seinen Dates tatsächlich gekommen ist und ob er am Ende das "perfekte Match" gefunden hat, verrät der Autor im Interview.

KURIER: Bei einem "Tinder-Marathon" werden die meisten zuerst an Sex denken. Wie wichtig war das für Sie?

Jonas Grünanger: Die Reise war dafür gedacht, einen Blick über den Tellerrand zu wagen. Ich habe dabei wirklich tolle Menschen kennengelernt, mit denen ich zum Teil auch heute noch Kontakt habe. Der Sex war gar nicht so wichtig – das primäre Ziel war, gute und spannende Geschichten zu erzählen.

Das widerspricht dem Ruf, den Dating-Apps wie Tinder haben.

Tinder wird generell als Sex-App bezeichnet, das erzählt mir auch jeder, den ich treffe. Letztendlich kommt es aber darauf an, was man selber daraus macht. Mein Buch beginnt damit, dass ich eine Doktorin der Philosophie und der Medizin treffe – das klingt nicht nach schnellem Sex, sondern nach abgefahrenen Gesprächen. Tinder ist großartig, um faszinierende Menschen kennenzulernen, die man auf normalem Weg nie getroffen hätte. In der Arbeit oder in der Disco hätte ich wohl weder die PR-Beraterin der türkischen Armee noch die Philosophie-Professorin aus dem Sudan kennengelernt.

Welche Städte haben sich als besonderes Tinder-freundlich herausgestellt?

Österreich und die Türkei haben mich als Nationen am meisten begeistert. Österreich mit Weltoffenheit, die Türkei mit Gastfreundschaft. Wien ist einfach großartig zum Tindern! Die Menschen, die ich hier getroffen habe, zeichnen sich durch eine unglaubliche Neugier und eine hohe Bildung aus. Wir Deutschen glauben ja, dass Ihr Österreicher massive Probleme mit uns habt – Stichwort Piefke und so. Ich habe festgestellt, dass das ein kompletter Blödsinn ist. Schade, dass ich nicht in Wien oder Istanbul lebe. (lacht)

Sie erwähnen oft die körperlichen Vorzüge der Frauen, die Sie getroffen haben. Wie oberflächlich ist Tinder?

Der Anfang ist natürlich total oberflächlich, du beurteilst ja nur das Äußere. Du siehst ein Bild und entscheidest in Bruchteilen von Sekunden, ob du jemanden attraktiv findest oder nicht. Dann sagst du Ja oder Nein. Wenn du etwas tiefer gehen willst, kannst du vielleicht noch den Spruch im Profil lesen oder die anderen Fotos anschauen. Was du dann daraus machst, liegt an dir – ich würde einige Treffen überhaupt nicht als oberflächlich beschreiben, im Gegenteil. Man kommt einander sehr nahe, wenn auch nicht immer sexuell.

Welches Treffen blieb Ihnen da besonderes in Erinnerung?

In Rumänien hatte ich ein Date mit einer Frau, die auf ihren Fotos aussah wie Brigitte Nielsen. Als sie vor meinem Hotel stand, sahen nur noch ihre Haare nach Brigitte Nielsen aus – der Rest eher nach Hella von Sinnen. Sie hatte fast keine Zähne mehr. Mein erster Gedanke war: Wie komme ich aus dieser Nummer wieder raus? Dann erzählte sie mir eine herzergreifende Geschichte über ihr Leben. Plötzlich war sie nicht mehr der – gemein gesagt – unattraktive Mensch, sondern eine sehr liebenswürdige Person. Die mich aber eben sexuell und liebestechnisch überhaupt nicht anzieht.

Was war Ihr schönstes Erlebnis?

Ich denke total gerne an Wien zurück, wo ich einen wunderbaren Abend mit einer Weißrussin hatte. Das war so ein lebendiger, lustiger, witziger Mensch, der mich sehr berührt hat. Oder an Israel: Ich hatte zwei beschissene Dates hinter mir. Tagsüber saß ich frustriert in einer Strandbar. Plötzlich stand eine Frau neben mir, die sagte: "Excuse me, are you the guy from Tinder?" Wir hatten am Tag davor ein Match, sie hatte mich wiedererkannt und angesprochen. Diese Dinge, mit denen du nicht rechnest, sind großartig.

Trotz Dating-Marathon durch Europa sind Sie immer noch Single ...

Sich zu verlieben ist eine schwierige Sache. Nach der Reise hatte ich kein einziges Tinder-Date mehr. Tinder ist wahnsinnig anstrengend. Das ist so, als würdest du jeden Tag Spaghetti essen – und sie auch noch selber zubereiten müssen.

Hat Tinder unser Dating-Verhalten verändert?

Diese Entwicklung gibt es schon seit zehn, 15 Jahren. Es gab ja ganz viele Single-Portale im Internet, die aber alle ein bisschen anstrengend waren. Tinder ist eine einfache Sache und deswegen auch so erfolgreich. Wir befinden uns in einem krassen gesellschaftlichen Wandel. Im Buch schreibe ich, dass ich 150 Matches habe – so viele Frauen kannte der Bauer früher in seinem ganzen Leben nicht. Die Welt ist ein Supermarkt geworden, und wir sind die Produkte.

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Buchtipp: Seine Erfahrungen während des zweimonatigen Dating-Marathons hat Jonas Grünanger im Buch „Social Bettwork“ (Riva Verlag, 15,50 €) aufgeschrieben.

Wissen Sie, was eine „Tinderella“ ist? Die Wortneuschöpfung wurde als „Jugendwort des Jahres 2015“ nominiert. Laut dem Langenscheidt-Verlag handelt es sich dabei um eine Frau, die Dating-Plattformen à la Tinder exzessiv nützt. Wie zum Beispiel die US-amerikanische Schauspielerin Hilary Duff, die sich nach der Trennung von ihrem Ehemann öffentlich zu ihrer Dating-Vorliebe bekannte. Oder Popstar Lily Allen, die vor kurzem twitterte: „Ich habe gerade Tinder entdeckt. Tschüss, Leben!“
Dass sogar Prominente vom Online-Dating schwärmen, ist neu – und zeigt, wie Tinder das Image von Flirt-Portalen verändert hat. Die mobile App wurde im September 2012 auf einem kalifornischen Uni-Campus verbreitet, wo sie heute 60 Prozent der Studenten täglich nützen. Ende 2014 flirteten weltweit 50 Millionen Singles via Tinder, in Österreich sollen es 20.000 sein.

Ein Grund für den Erfolg ist die einfache Bedienung: Dem Nutzer werden Personen aus einem vorher festgelegten Umkreis vorgeschlagen. Entspricht das Bild den Erwartungen, wird nach rechts gewischt, wenn nicht, nach links – in diesem Fall ist der User nicht mehr sichtbar. Der Clou: Die Chatfunktion wird erst freigeschaltet, wenn der bzw. die andere ebenfalls Interesse bekundet hat – dann liegt ein „Match“ vor, wie Tinderellas sagen würden.