Verfallene italienische Villen, stillgelegte Kraftwerke, verlassene Fabriken – mehr als 300 "verlorene Orte" spürte Fotograf THOMAS WINDISCH bisher auf. Seine Bilder strahlen eine einzigartige Ruhe und Erhabenheit aus. Sie dokumentieren den Lauf der Dinge in all seiner Unbeirrbarkeit, finden das Schöne im Verfall. Und erinnern uns an die Kostbarkeit des Augenblicks.
Was bleibt? Von all unseren Träumen, Hoffnungen und Sehnsüchten. Den Stunden, die wir unbeschwert mit Freunden verbringen, in den mit Zufriedenheit und Besitzerstolz gespachtelten Wänden unseres Heims? Dem halben Leben, in dem wir uns in Büroräumen aufhalten oder schuftend in einer Fabrik? Wenn die Orte, die ein Leben oder viele geprägt und bestimmt haben, aufgegeben werden. Vergessen. Verfallen.
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Eine Ahnung vielleicht. Von den Geheimnissen, die die Mauern der Gebäude behütet haben, als sie noch bewohnt und benutzt wurden. Ihnen ist Fotograf
Thomas Windisch auf der Spur, wenn er mit seiner
Kamera auf die Jagd geht. Heruntergekommene Stadtresidenzen, ausgediente Villen, stillgelegte Fabriken und längst von allen Seelen verlassene Sanatorien sind die Orte seiner künstlerischen Sehnsucht. "Der Raum muss mir eine Geschichte erzählen. Dann stimmt es, erst dann mache ich ein Bild", sagt er. "Ruin Porn" wird diese rasant zum Trend gewachsene Art der Fotografie mittlerweile genannt. Eine Bezeichnung, über die
Windisch nicht glücklich ist, unterstellt sie doch die Bloßstellung und Ausbeutung verfallener Gebäude. Was nicht in seiner Absicht liegt.
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Aber tatsächlich findet man auf
Instagram und diversen Fotoplattformen im Netz eine Flut von Bildern zum Thema. Angefangen hat die Sache in verlassenen Industriekomplexen in
Detroit, heute ist weltweit kaum ein Abbruchhaus vor Handyfotografen auf Ruinenexpedition sicher. An manchen Locations geben sich Gruppen aus den
USA,
Belgien,
Deutschland,
Skandinavien und Weißgottwoher die nicht mehr vorhandenen Klinken in die Hand. "Prinzipiell ist mir das egal", sagt
Thomas Windisch."Wenn sie an den Räumen nichts verändern" Manche Fotografen bringen Requisiten mit oder arrangieren die Räume um – andere zerstören die Einrichtung nach geknipstem Bild einfach komplett. Ihnen geht es um das Spektakuläre, Einzigartige. Den Beweis: "Ich war da und du nicht!"
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Windischs Fotos sieht man die andere Herangehensweise an. Sie leben. Sie erzählen. Auch wenn es für jeden Betrachter eine andere Geschichte sein mag. 14 Stunden war er einmal am Stück in einer ehemaligen italienischen Nervenklinik. "Ein doch etwas unheimliches Erlebnis. Vor allem, wenn man weiß, was in geschlossenen psychiatrischen Abteilungen bis 1978 vor sich ging", sagt er. Gummischürzen hängen noch an ihren Haken in der gefliesten Wand, altersfleckige Behandlungsstühle stehen drohend im Raum, Elektroschockapparate scheinen sich auch im Ruhezustand noch ihrer Macht bewusst. Und dem Schrecken, den sie verbreitet haben. "Wenn da der Wind in den langen Gängen mal ein Fenster zuknallt, reißt's dich schon ordentlich", erinnert sich der Fotograf.
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Oder die einst schicke Bar in Kroatien. Hier wurdevor 40 Jahren Slivovitz und Whisky getrunken, Cocktails wurden gerührt und geschüttelt, auf den Barhockern saßen schöne Frauen und mächtige Männer. Oder solche, die es gern geworden wären. Heute wächst der Farn aus Rissen in der Theke, die Barhocker sind mit Moos überzogen. Wobei die Lust an den Ruinen, die Faszination am Verfall etwas Altes, sehr Menschliches ist.
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Schon im 18. Jahrhundert erfuhr sie einen vergleichbaren Höhepunkt. Goethe bereiste Italien und war gebannt von der verwitterten Pracht, die Engländer erfanden "Kunstruinen", die sie pittoresk in ihre Landschaftsgärten einbauten und praktisch jeder las die damals immens hippen "Schauergeschichten", in denen alte Häuser, die von schlimmen bis obszönen Taten ihrer einstigen Bewohner beeinflusst waren, eine Hauptrolle spielten. In unserer schnelllebigen Zeit sind die Ruinen nicht mehr ganz so alt, 50, manchmal nur 30 Jahre reichen schon, um ein Gebäude zu einem "Lost Place" zu machen.
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Was waren die angenehmsten unter den 356 vergessenen Orten, die Thomas Windisch bisher aufgesucht hat? „Englische Landhäuser. Die haben sogar im verfallenen Zustand noch etwas Einladendes, Warmes.“ Die Schrecklichsten? „Neben den psychiatrischen Kliniken war das ein riesiges Gefängnis in Frankreich. Obwohl ich wusste, dass ich jederzeit gehen kann, bekam ich Angstzustände. Allein die Vorstellung, dass hier Menschen ein, zwei oder gar viele Jahre verbringen mussten, reduziert auf ihre rudimentärsten Bedürfnisse in einer vier Quadratmeter großen Zelle – das war beinahe zu viel.“ Die Berührendsten? „Wenn ich Musikinstrumente sehe. Ich hab selber Klavier gespielt, und sie in ihren früher liebevoll gestalteten Zimmern vor sich hinrotten zu sehen, still, tonlos – das macht mich doch traurig.“
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Wie in der hübschen süditalienischen Villa, durch deren eingestürztes Dach sich ein grüner Blätterregen aus Kletterpflanzen ergießt. Vielleicht war es die Dame des Hauses, die gespielt hat. Vielleicht waren es die Kinder, während der Vater im bequemen Sessel gegenüber zuhörte. Und dachte, alles würde ewig so weitergehen ...
Bleibt die Frage, was aus unseren Wohn- und Bürohäusern in 50 oder 100 Jahren geworden sein wird. Welche Geschichten sie den Betrachtern erzählen werden. Von ungezwungen dahinplätschernden Stunden vielleicht, von Fußballabenden vor dem Fernseher oder eleganten Essenseinladungen, dem Gelächter der Kinder, Streit, Ärger, Liebe. Von unseren großen und kleinen Schlachten, Siegen und Enttäuschungen. Von allem, was uns wichtig war.
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Die Fotografien von Thomas Windisch sind ab 5. September in einer eigenen Ausstellung zu sehen: „Buch & Kunst“, Wollzeile 2, 1010 Wien www.thw.photography
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