Liebe endet, wo Stalking beginnt
Von Julia Pfligl
Spätestens als der fesche Joe seine Angebetete Beck ganz geheim durch das Fenster beobachtet, wird dem Zuseher klar: Das geht vielleicht doch zu weit. Der neue Netflix-Zehnteiler „You“ (Untertitel: „Du wirst mich lieben“), der seit Wochen für Aufregung in sozialen Medien sorgt, dreht sich um die Frage:
Ab wann wird Liebeswerben zur Belästigung?
Wie schmal dieser Grat zwischen romantischem Umgarnen und aufdringlichem Verhalten ist, veranschaulichte jüngst eine Geschichte aus dem echten Leben: Eine Twitter-Nutzerin berichtete stolz von einem Bekannten, der sich in die Mitarbeiterin eines Supermarkts verschaut hatte. Als sie eines Tages plötzlich den Arbeitsplatz wechselte, klapperte er in der Hoffnung auf ein Happy End alle Filialen der Stadt ab. Die Reaktionen auf die Story sind gespalten: „Es gibt sie noch, die wahre Liebe“, kommentieren einige User. „Das ist nicht romantisch, sondern Stalking!“, empören sich andere. Fans der TV-Sitcom „How I Met Your Mother“ erinnern sich nun vielleicht an die Worte des Hauptcharakters Ted Mosby, der die Problematik in einer Folge so auf den Punkt brachte: Ist die andere Person interessiert, gilt so etwas als charmant; ist sie es nicht, gruselig.
Ähnliches sagt Psychologin Doris Jeloucan, die auf Paartherapie und Singlecoaching spezialisiert ist: „Es ist ein hochkomplexes Thema, das eine alte Frage aufgreift: Meint eine Frau wirklich ‚Nein’, oder will sie eigentlich umworben werden?“ Ein Klischee, das durch Romantikkomödien aus Hollywood laufend bestärkt wird. Schuld sind nicht nur patriarchale Strukturen und Uralt-Rollenbilder: „Viele Männer haben einen geringen Selbstwert und denken, wenn sie nur genug investieren und hartnäckig bleiben, wird daraus schon was.“ Das Konzept „aktiver Mann erobert passive Frau“ ist gesellschaftlich fest verankert, seit der #MeToo-Bewegung beginnen die Strukturen zu bröckeln. Psychologisch gesehen sei der Sachverhalt eindeutig – die Grenze liegt da, wo jemand „Nein“ sagt. „Stalking heißt, ich gehe jemandem nach, der das nicht will“, erläutert Jeloucan. „Aber eines ist klar: Begegnung kann immer nur an Grenzen passieren, und dafür muss ich Grenzen ausloten.“
In diesem Graubereich spielte sich auch die Geschichte von Lynda und Josh ab: Im Zug kamen die jungen Briten ins Gespräch, plauderten kurz über das Wetter. Lynda verriet Josh nur ihren Vornamen – dennoch machte er sie auf Instagram ausfindig, bat einen ihrer Freunde um ihre Nummer und schrieb ihr mehrfach, dass er sie kennenlernen wolle. „Reagiere ich über, oder ist das gruselig?“, schrieb die 20-Jährige auf Twitter und machte den Chat öffentlich. Rasch betitelten britische Medien Josh in Anlehnung an den Stalker aus „You“ als „Real Life Joe“.
Paradies für Stalker
Die Generation Social Media fühlen sich wohl spätestens jetzt ertappt: Seit Facebook, Instagram und diverse Dating-Apps die Smartphones erobert haben, ist es lächerlich einfach geworden, eine Person online zu „stalken“ – herauszufinden, wo sie Urlaub macht, morgens ihren Cappuccino holt oder wer ihre Freunde sind. Auch Joe Goldberg durchforstet die (öffentlichen) Social-Media-Konten von Beck, um ihr nachzustellen, was beim Zusehen einen beklemmend hohen Identifikationsfaktor schafft.
Experten wie Matthias Jax von der Plattform Saferinternet betonen daher, wie wichtig ein bewusster Umgang mit persönlichen Daten ist. „Man darf nicht vergessen, dass im Smartphone meist das GPS aktiviert ist – das ist praktisch, um den Ort zu markieren, kann aber missbraucht werden. Wenn jemand immer sagt, wo er gerade ist, kann ich relativ einfach nachvollziehen, wie sein Alltag ausschaut.“
Psychologin Jeloucan relativiert: „Dass man vor einem Date das Bedürfnis hat, möglichst viel über den anderen herauszufinden, ist nicht verwerflich.“ Ebenso wenig, wie die (per Facebook eruierte) Lieblingsdisco des anderen zu besuchen, in der Hoffnung, ihn oder sie dort zu treffen. „Man schafft Möglichkeiten, sich über den Weg zu laufen, das war auch vor den sozialen Medien so. Ich kenne ganz viele Paare, die sich so kennengelernt haben.“ Manchmal darf man dem Schicksal also doch nachhelfen.
Aber nur solange, bis ein Wort ertönt: Nein.