Kiku

Morton Rhue im KiKu

Kiku: Bevor wir mit dem Interview beginnen: In Amerika schreiben Sie unter dem Namen Todd Strasser, in Europa nennen Sie sich Morton Rhue, wie sollen wir Sie nennen?Rhue: Mittlerweile reagiere ich auf beides. Eines meiner ersten Bücher „Die Welle“ wurde gleichzeitig mit einem anderen Werk publiziert, deshalb wurde ich von meinem Verleger gebeten, mir ein Pseudonym zu überlegen.Morton, dein neues Buch „No Place, No Home“ befasst sich mit dem Thema Obdachlosigkeit. Wen soll dieses Buch ansprechen? Ich habe dieses Buch für Jugendliche geschrieben, die noch ein Zuhause haben. Es soll diesen zeigen, wie vergänglich das Leben sein kann, auch wenn man alles richtig macht.

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Für deine Bücher betreibst du immer sehr viel Recherche, indem du mit vielen betroffenen Menschen sprichst. War es leicht, Obdachlose dazu zu bewegen, dir ihre Geschichten zu erzählen?

Die Menschen wollten mit mir sprechen. Ich habe bemerkt, dass man Obdachlose in zwei Gruppen einteilen kann. Die Einen reden sich ein, dass ihr Situation nur für eine bestimmte Zeit andauere, die Anderen finden sich einfach damit ab. Die Obdachlosen, die dazu bereit waren, mit mir zu reden, waren hauptsächlich solche, die sich mit der Situation nicht anfreunden konnten.

In „No place, no home“ ist das Ende unserer Meinung nach ziemlich plötzlich passiert. Was war die Idee dahinter? Das wusste ich nicht. Ich wünschte, mein Herausgeber hätte mir das gesagt. Jetzt werde ich ein bisschen nervös wegen der deutschen Übersetzung. Kann ich mein Buch umschreiben? (lacht) Spaß beiseite, ich wollte die Geschichte abrunden, das ist mir offenbar nicht gelungen.

Welle und ihre Enden

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Was halten Sie davon, dass Ihre Bücher in andere Sprachen übersetzt werden?Meine Bücher wurden bisher in um die 20 Sprachen übersetzt und ab und zu beschließt ein exotisches Land, etwas zu übersetzten. Manchmal hab ich noch nie was von diesen Ländern gehört. Ich finde das toll, damit kann ich viel mehr Leser erreichen.

„Die Welle“ ist dein bekanntestes Werk. Es wurde mittlerweile zwei Mal verfilmt. 1981 in den USA und 2008 in Deutschland. In einem Interview sagst du, dass du das Ende des deutschen Films nicht magst. (Ein Schüler schießt auf einem Jungen und richtet sich dann selber, Im Buch sprechen sich Lehrer und Schüler friedlich aus). Wieso? Ich liebe den ganzen Film, nur mit der Waffe am Ende habe ich ein Problem. Der Filmproduzent hatte das Problem, dass er kein Ende für den Film gefunden hat. Meine Leser fragen mich oft nach dem Ende.

Heinz Wagner hat vor ein paar Jahren den Lehrer, der dieses Experiment wirklich durchgeführt hat, getroffen, und „der hat gesagt, dass ihm das Ende der neuen Verfilmung aus dem Jahr 2008 besser als das Ende deines Buches gefallen hat, da sich nach dem echten Experiment herausgestellt hat, dass ein Junge aus seiner Klasse mit Bomben experimentiert hatte. Der Film zeigt, wie gefährlich diese Situation war.“ Hätte ich das gewusst, hätte ich vielleicht ein anderes Ende geschrieben. Soll ich auch dieses Buch umschreiben? (lacht)

Mit Schulklassen skypen

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Auf deiner Website bietest du an, mit Schulklassen kostenlos zu skypen. Wie kamst du auf diese Idee und wieso machst du das?Ich glaube, da gibt es mehrere Gründe. Einerseits geht es darum, dass ich nach außen hin präsent bin und Schüler meine Bücher lesen, und kaufen wollen. Andererseits ist es für Schulen sehr teuer, einen Autoren zu bezahlen, der in den Schulen mit den Schülern spricht. Das ist mein Weg, Schülern das Lesen und das Schreiben näher zu bringen. Ich habe das bis jetzt schon mit Schulen zum Beispiel in Amerika, Neuseeland, Frankreich und Deutschland gemacht. Die Liste ist lange.

Moby Dick in Space

Über welches Thema wist du als nächstes schreiben, recherchierst du jetzt schon? Mein nächstes Buch handelt von der Vernichtung der Umwelt auf der Erde. Es werden Raumschiffe benützt, um zu anderen Planeten zu gelangen. Es wird ein Science-Fiction-Abenteuer-Buch! Mein vorläufiger Titel ist „Moby Dick in space (Moby Dick im Weltraum). Ich habe es auch schon an Ravensburger verkauft, deshalb wird es jedenfalls auf Deutsch übersetzt werden.

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Warum geht es in deinen Büchern hauptsächlich um Jugendliche?Das ist meine „Zielgruppe“. Ich schreibe schon einige Jahre und fühle mich bei den Jugendlichen wohl. Das kann man vergleichen, wie Musiker gerne Jazz spielen. Die Bücher über Jugendliche verkaufen sich auch besser. Jedoch habe ich bemerkt, dass in den Vereinigten Staaten „Über uns Stille“ („Fallout“) bei den Erwachsenen sehr gut verkauft wird, da diese sich mit dem Thema Kubakrise sehr gut identifizieren können.

Glaubst du, dass deine Bücher Menschen oder die Welt verändern? Ich habe vor kurzem eine eMail von einem Jungen bekommen, der das Buch „Ghetto Kids“ gelesen hat. Dieser meinte, dass er noch nie über das Thema, das das Buch anspielt, nachgedacht hat. Das ist, was ich mit meinen Büchern erreichen will.

Das heißt, du schreibst eher für die Leser, als für dich selbst? Ich würde schon sagen, dass ich für meine Leser schreibe. Obwohl „Über uns Stille“ zum Beispiel habe ich für mich geschrieben, weil ich mich sehr gut an die Kubakrise erinnern kann und das mein Weg ist, das zu verarbeiten.

Zoowärter und Rennfahrer

Was wolltest du machen, als du ein Kind warst? Ich wollte Zoowärter werden und im Affenhaus arbeiten. Mein Lieblingsaffe war Andy, der Orang Utan. Das meine ich absolut ernst. Mich haben Naturwissenschaften sehr interessiert. Nach einer Zeit bin ich rausgewachsen. Dann wollte ich Rennfahrer werden. Wie Niki Lauda!

Haben die kindlichen Jobwünsche jemals eine Rolle in deinen Büchern gespielt? Ja! Ich hab eine Buchreihe über Autorennen geschrieben. Genauer gesagt über drifting. Erfolgreich war ich damit zwar nicht, aber so habe ich meinen Traum gewissermaßen verwirklicht.

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Verurteilst du Menschen, die nicht lesen?Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen Bücher lesen würden. Das macht mich wirklich traurig. Viele bekommen ihre Informationen über TV-Serien wie die Simpsons.

Du bist ja schon eine sehr lange Zeit Autor. Habst du dich während dieser Zeit verändert? Ich weíß nicht, ob mich meine Bücher verändert haben. Ich habe mich als Person verändert. Ich würde sagen, dass ich anders denke als früher und ich das auch in meinen Bücher reflektiere.

Wenn man mehrere Bücher gelesen hat, stellt man fest, dass deine Bücher fast alle ein ähnliches Schema haben. Es geht um einen (oder zwei) Jugendlichen, deren Umfeld sehr genau beschrieben werden. Wieso? Ich bin ohne viele Freunde aufgewachsen. Ich war in keiner „Gruppe“ und das ist auch so, wie ich die Welt sehe. Es gibt die individuelle Person und die Gruppe und ich glaube, dass ich das auch in meinen Büchern widerspiegle.

Wie bereits gesagten wurden deine Bücher bisher in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Somit erreichst du eine Menge von Menschen. Würdest du dir wünschen, dass Bücher öfter verfilmt werden würden, um noch mehr Menschen zu erreichen? Ich bin fasziniert, wie sehr man Bücher und Film unterscheidet. Ein Buch wird erst wirklich gut, wenn dieses verfilmt wird. Wieso ist das so wichtig? Ich habe schon viele schlechte Bücher gelesen, die verfilmt wurden. Ebenfalls gibt es zu richtig guten Büchern richtig schlechte Verfilmungen. Zum Beispiel „Stirb Langsam“ basiert auf einem Buch, das richtig schlecht ist! Ich denke die richtige Frage wäre: Hätte ich lieber einen schlechten Film oder gar keinen? Weil jeder will einen richtig guten Film!

Dan muss mit seiner Familie aus dem eigenen Haus ausziehen. Bei Onkel Ron kommen sie unter – und kriegen zu spüren, dass sie bestenfalls geduldet sind. Der beste Baseball-Spieler seiner Highschool engagiert sich noch mit anderen Jugendlichen, um Essen für Obdachlose in einer Zeltstadt zuzubereiten. Doch da schwingt schon auch die Angst mit, vielleicht auch einmal da landen zu können – und es ganz und gar nicht zu wollen. Nein, nicht nach Dignityville („Stadt der Würde“). Dieser Name drückt einerseits das Bestreben der Betroffenen aus, sich nicht ganz fallen zu lassen, lässt aber andererseits auch ein wenig überheblichen Zynismus der (noch) nicht Betroffenen der selben Stadt mitschwingen, ähnlich wie im brasilianischen City of God, der Riesenfavela, über die Paolo Lins im gleichnamigen Roman vor rund zehn Jahren schrieb. Und dann ist es so weit, auch Daniel Halprin landet hier.

Viele betroffen

Das jüngste Buch von Todd Strasser, hierzulande sicher fast nur unter seinem Pseudonym Morton Rhue bekannt, handelt von Obdachlosigkeit in den USA. Durch die große, jüngste Wirtschaftskrise verursacht, ist sie zu einem Phänomen geworden, das hunderttausende Menschen betrifft, bis in die Mittelschichten reicht. Allein in New York leben ein Prozent der Kinder mit ihren Familien in Obdachlosenasylen – Einrichtungen, die erst in den vergangenen Jahren die ersten Zeltstädte nach Ausbruch der Krise ablösten.

Intensive Recherche

Auch für dieses Buch recherchierte der bekannte Jugendbuchautor wie für viele seiner anderen intensiv in der „Szene“, traf viele Obdachlose, darunter etliche, die – wie er im KiKu-Interview erzählte, dass da endlich wer war, den ihre Lebensgeschichten interessierten.

Und wie für die anderen Bücher - ob nach dem Columbine High School Massaker (Ich knall euch ab), über Kinder, die von ihren Eltern in Straflager geschickt werden (Boot Camp), das Entstehen einer „Führer“-gläubigen Bewegung auch nur innerhalb weniger Tage (die Welle), der Model- und Starkult (Fame Junkies) – verpackt der Autor auch dieses brisante Thema in eine spannende, kurzweilig geschriebene, leicht lesbare und sehr gut nachvollziehbare Story. Viel – nach Möglichkeit vor Ort oder mit Betroffenen recherchierte Fakten mixt er zu plausiblen Geschichten, in deren Mittelpunkt zwar fiktive Personen und Orte (hier genialerweise „Average“ – zu Deutsch Durchschnitt) stehen, die aber auf den Fakten aufbauen und sich auch genau so abspielen könnten.

Gefühls-Achterbahn

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Da ist etwa auch die mit dem ökonomischen Abstieg von Dans Mittelschichtsfamilie einhergehende zunehmend verkorkste Beziehung zu seiner aus gestopfteren Verhältnissen stammenden Freundin Talia Purcellen, die oft für ihn zahlt. Und auf der anderen Seite kommt es zu einer gefühlsmäßigen Annäherung Dans an Meg, die mit ihrem Bruder Aubrey so was wie Herz & Seele und organisatorischer Motor sind.

Während die Stadt einerseits die Zeltstadt unterstützt, weil sie damit alle Obdachlosen auf einem Haufen beisammen hat, bildet sich eine Bürger-Gegenfront, die fürchtet, dass Immobilienpreise in der Gegend angesichts der Ansammlung Obdachloser verfallen könnten. Einer derer, die ihre Geschäfte bedroht sehen ist übrigens Onkel Ron.

Eine weitere Dimension in „No place, no home“ entsprang dem Kopf des Autors, wie er im Gespräch mit dem Kinder-KURIER gestand: Jene der positiven Alternative solcher Siedlungen, die – angetrieben vor allem von Meg und Aubrey – auf Ökologie achten, Gemüse, Obst und Kräuter anbauen und so eine gewisse Autarkie anstreben.

Steinbecks "Früchte des Zorns"

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Immer wieder baut Strasser/Rhue in dieses Buch Zitate aus John Steinbecks berühmtem Roman „Früchte des Zorns“ ein, die er Dan sagen oder denken lässt, der das Buch in der Schule lesen muss. Dort geht‘s um Obdachlosigkeit und Entwurzelung – „nur“ rund 100 Jahre früher. Damit eröffnet Morton Rhue den Blickwinkel, dass Obdachlosigkeit nicht nur nicht ein individuelles Schicksal ist, sondern auch ein historisch – in diesem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem – wiederkehrendes. Und dass es auch Initiativen gibt, die sich dagegen stellen, wie die auch in diesem Jugendroman an mehreren Stellen vorkommende „wir sind 99%“-occupy-Bewegung.

Morton Rhue, No place, no home 279 Seiten, Ravensburger Buchverlag, 15,50 Euro

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Morton Rhue auch als Todd Strasser (sein wahrer Name) bekannt, ist ein in New York geborener und lebender Schriftsteller. Er schreibt größtenteils Kinder- und Jugendbücher, die Jugendliche zum Nachdenken bringen und sie generell über aktuelle und wichtige Themen informieren sollen. Hier in Österreich ist er vor allem für „Die Welle“ bekannt, die zwei Mal verfilmt wurde und in Schulen beinahe schon als Pflichtlektüre gilt.

Aufgewachsen ist der Schriftsteller inmitten der Aufrüstung im Kalten Krieges, was ihn sehr geprägt hat und später dazu veranlasste, diesem Prozess ein Buch zu widmen. ("Über uns Stille").

Ironischerweise war der kleine Todd in der Grundschule relativ schlecht im Schreiben und Lesen und musste beinahe das vierte Volksschuljahr wiederholen. Todd Strassers Traumberuf war ursprünglich als Zooarbeiter bei Affen sein Geld zu verdienen oder als Rennfahrer über den Asphalt zu schlittern. (Was er letztendlich auch in einer, von ihm geschriebene Buchserie ausleben konnte.) Nach raschen Collegeerfahrungen arbeitete er eine Zeit lang als Straßenmusikant in Dänemark („Wenn ich etwas in dieser Zeit gelernt habe, dann, dass ich kein guter Musiker bin.“) und danach mit Collegeabschluss als Journalist in den U.S.A.

Botschaften an Jugendliche

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In seiner Zeit als Schriftsteller hat er nicht nur mehr als 130 Bücher geschrieben, wofür er mit vielen Auszeichnungen belohnt wurde, sondern auch die harte Welt eines Schriftstellers kennengelernt.

Laut Mr. Rhue persönlich verbringt er nur ein Prozent seines Autor-daseins mit Reisen, auf denen er mit Schulklassen spricht, seine Bücher vorstellt und Interviews gibt. Die anderen neunundneunzig Prozent sitzt er zu Hause an seinen Büchern. Er liebt es zu schreiben, seine Texte nach einiger Zeit aufs Neue zu lesen und an diesen weiterarbeiten zu können, für seine Bücher zu recherchieren, betroffene Jugendliche dazu zu befragen und jederzeit an verschiedenen Geschichten arbeiten zu können. Dennoch empfindet er es manchmal als schwierig den Vorschlägen, Tipps und Korrekturen des Verlages nachzukommen.

Faszinierend ist jedoch, dass es ihm zwar gefällt Jugendliche über wichtige Themen zu informieren und diese anzuregen, sich näher damit zu befassen und Dinge kritisch aus verschiedene Perspektiven zu sehen, dennoch ist sein Grund, warum er Schriftsteller geworden ist, jener, dass Schreiber schreiben müssen. („Writers have to write.“)

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