Leben/Gesellschaft

Das neue Pilgern von Knie-Rutschen bis Lifestyle

Es ist kurios: In Europa kehren jährlich viele Menschen ihrer Kirche den Rücken, zugleich steigt die Zahl der Pilgerreisenden rasant. Ihr Bedürfnis nach spiritueller Tiefe und Antworten auf essenzielle Fragen stillen sie auf Wegen, die vor zweitausend Jahren von Christus’ Aposteln begangen und vor tausend Jahren von Kirchenmännern wiederentdeckt wurden.

Die heiligen Schriften der Selbst-Seelsorger sind neben psychologischen Ratgebern die Erfahrungsberichte prominenter Pilgerer von Hape Kerkeling ("Ich bin dann mal weg") bis Paulo Coelho ("Auf dem Jakobsweg"). Auf dem berühmten "Camino" bemühen sich jedes Jahr bis zu zwei Millionen Sinnsucher um neue Kraft, den Durchblick im überfordernden Leben oder einfach Gewichtsreduktion.

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Gerald Gschanes kennt alle Pilgertypen. Seine Agentur Oliva Reisen organisiert jährlich 25 Reisen für bis zu 1000 Pilger. "50 Prozent wollen auf den Jakobsweg, die Hälfte davon auf die Hauptroute." Von Lifestylepilgern, die als Extraprogramm drei Tage im Kloster sein wollen, bis zu jenen, die einen Teil des Weges auf Knien rutschen. Begleitet werden sie von ausgebildeten Pilgerführern. "Sehr Gläubige suchen oft Reisen, die ein Bischof anführt. Aber zu uns kommen auch Manager, die eine Auszeit brauchen." Das Aufeinandertreffen so unterschiedlicher Menschen birgt laut Gschanes keine Probleme: "Die Gruppen wachsen immer mehr zusammen und sind gegenseitige Stütze. Die Menschen auf solchen Wegen haben ja ähnliche Themen, Arbeit, Partnerschaft, Kinder, ..." Außerdem laufe quasi jede Buchung über persönliche Beratung, da wird klar, wer zu welcher Gruppe passt.

Viele suchen heute Alternativen zum Jakobsweg, jahrelanges Werbegetrommel bringt eben Lärm statt Ruhe. Gschanes empfiehlt Sinnsuchenden Norwegen: "Der Olavsweg zwischen Trondheim und Oslo ist im Kommen. Er hat bietet gute Infrastruktur und eine tolle Landschaft." Steigendes Interesse erlebt auch der Franziskusweg von Assisi nach Rom, besonders durch die Besuche des neuen Papstes. "Der ist noch ein echter Geheimtipp und wird auch nie so überlaufen sein wie der spanische Jakobsweg." Kein Geheimtipp, aber wenig begangen ist die Via Francigena (Frankenweg, Infos: www.eurovia.tv, via-francigena.com). Sie folgt den Spuren Sigerichs von Canterbury, der im Jahr 990 nach Rom pilgerte, um seine Bischofswürde zu erhalten.

Völlig außerhalb der christlichen Kultur initiierte der Niederländer Dirk Beemster vor einigen Jahren den ersten buddhistischen Weg Europas. Während spirituelle Wanderreisen in buddhistischen Ländern wie Japan sehr beliebt sind (siehe Geschichte rechts), suchte Beemster für den Jizoweg (www.jizopad.nl) "schöne und ruhige Verbindungen zwischen buddhistischen Zen-Zentren. Im Zen-Buddhismus spielt das Ziel kaum eine Rolle. Christen pilgern traditionell, um anzukommen. Beim Zen ist das Unterwegssein wichtig. Es kommt auf jeden Schritt an, auf die Achtsamkeit."

Der lange Weg zu sich

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Das engagierteste Projekt vergangener Jahre initiierte der österreichische Polizist Johannes Aschauer mit seinem Kollegen Otto Klär und dem ehemaligen Ski-Abfahrts-Weltmeister David Zwilling. Ihr Jerusalemweg (www.jerusalemway.org) entlang historischer Routen passiert 15 Länder. Aschauer: "Der längste Friedensweg der Welt. Was Religionen und Völker trennt, können wir Menschen in Liebe verbinden." Er führt vom Kilometer 0 des Jakobsweges entlang historischer und kultureller Orte im Herzen Europas über mazedonische Orte der Mutter Teresa ins "Heilige Land". "Es sind ein paar Dutzende im Jahr auf dem Weg unterwegs, aber es werden schnell mehr."

Die noch schwache Infrastruktur auf dem Weg ist für Aschauer ein Vorteil: "Du kannst die Quartiere kaum reservieren, dadurch entwickelt man das Vertrauen, dass sich alles immer gut fügen wird." Wahres Pilgern offenbart sich für Aschauer nicht in einem Gewaltmarsch oder dem Erreichen eines Ziels. "Alles, was du brauchst, hast du auf den eigenen Schultern, das befreit. Ich habe das sehr stark nach der Heimkehr vom Pilgern gemerkt, habe mich in meinem Haus verloren gefühlt."

Solche Erfahrungen berichten Pilger oft. Allerdings auch, dass man dabei nur Erkenntnisse freilegt, die in einem schlummern. Lebensänderung gegen den eigenen Charakter passiert nicht. Ein alter Sinnspruch sagt: "Was das Herz bewegt, setzt die Füße in Bewegung".

Reisetipp: Olivareisen bietet Trips auf dem Jerusalemweg mit Aschauer, Klär und Zwilling an, nächster Termin 26. 8.–6. 9. von Mohacs bis Feres, www.olivareisen.at.

Die Idee des spirituellen Wanderns ist alt und in nahezu allen Religionen und Kulturen verankert. Schon im Alten Testament werden Pilgerreisen zu heiligen Orten beschrieben, einige Psalme leiten sich von Gebeten der Pilger ab.

Die wahrscheinlich bekannteste Wallfahrt hat jedoch der Islam. Zumindest eine Teilnahme am haddsch, der Pilgerreise ins saudi-arabische Mekka, gehört zu den fünf Pflichten jedes Moslems. Auch der Hinduismus Indiens kennt solche Reisen zu den sieben heiligen Orten Ayodhya, Dvaraka, Kanchipuram, Mathura, Varanasi – sowie Ujjain und Haridwar, wo auch das Pilgerfest kumbh mela stattfindet. Zum Heiligen Berg Kailash in Tibet pilgern Hindus und Buddhisten.

Besondere Bedeutung haben die religiösen Wanderreisen im japanischen Zen-Buddhismus. Pilgern ist dort nicht nur religiös begründet, sondern dient im Land der Arbeitsmoral auch als Grund für Urlaub. Der beliebteste Pfad hachi-ju-hakkasho führt zu den 88 Tempeln des historischen Mönchs Kobo Daishi auf der Insel Shikoku. Die knapp 1400 Kilometer lange Route ist angeblich der längste Pilgerweg der Welt.

Die zweite große Pilgerregion Japans liegt auf der Halbinsel Kii südöstlich von Osaka. In den landestypischen Bambuswäldern und an der Küste sind heilige Stätten und große Schreine durch 1000 Jahre alte Pfade verbunden. Dieses Wegenetz kumano-kodo ist UNESCO-Weltkulturerbe und führt an den heiligen Berg Koyasan. Hier liegt auch das Zentrum des um 800 n.Chr. gegründeten Shingon-Buddhismus.

Besonders für Ost-Österreicher ist eine Wallfahrt nach Mariazell der Inbegriff des religiös motivierten Gehens. Das Land bietet aber auch längere Pilgerwege, sehr gute Ratgeber sind die Website www.pilgerwege.at und das Forum www.pilgern.at.

Via Nova

Eine gute Alternative ist zum Beispiel die knapp 300 Kilometer lange Via Nova. Der seit 2004 bestehende Pilgerweg zwischen Deutschland und Österreich versucht mit einer Botschaft aus dem Dickicht der vielen neuen Wege zu strahlen und will daher „einen geistigen Weg in die Zukunft“ weisen.
Mauth/Finsterau oder Mallersdorf-Pfaffenberg (Bayern) bis St. Wolfgang (Oberösterreich), seit 2010 ist auch Příbram (Tschechien) angeschlossen. www.pilgerweg-vianova.at

Weg des Buches

Eine ähnliche Route nimmt anfangs der evangelische Bibel-Pilgerweg, führt dann aber weiter über den Dachstein, durch die Niederen Tauern und die Kärntner Nockberge bis an die slowenisch-italienische Grenze. Der 2008 eröffnete Weg folgt auf 529 Kilometern in 29 Etappen den Spuren der historischen Bibelschmuggler und Geheimprotestanten.
Ortenburg (Bayern) bis Arnoldstein (Kärnten). Information bietet das „Buch zu Weg“ mit Bibelleseplan sowie kirchen-, kultur- und kunstgeschichtlichem Führer. www.wegdesbuches.at

Arnoweg

Im Jahr 1998 wurde zum Jubiläum „1200 Jahre Erzbistum Salzburg“ ein Weg im Andenken an Erzbischof Arno von Salzburg († 821) geschaffen. Der Rundwanderweg (1000 km) folgt – teilweise in alpinem Gelände – Spuren der Kirchengeschichte sowie landschaftlichen und kulturhistorischen Höhepunkten Salzburgs.
Salzburg. www.arnoweg.com

Hemmapilgerwege

Die acht sternförmigen Routen führen auf insgesamt 850 Kilometern von unterschiedlichen Startpunkten zum Grab der Heiligen Hemma im Kärntner Gurk. Der 2002 initiierte Hemmapilgerweg knüpft an die Tradition der Krainerwallfahrt an.
Sveta Ana bzw. Črna (Slowenien), Admont bzw. St. Hemma/Edelschrott (Steiermark), Turrach, Millstatt, Ossiach bzw. Karnburg (Kärnten) bis Gurk. www.kath-kirche-kaernten.at

Kärntner Marienpilgerweg

In zehn Etappen führt der Weg durch Kärnten und passiert dabei Klagenfurt, Villach und das Gailtal. Der erst vor vier Jahren eröffnete Pfad streift dabei alle Regionen des Bundeslandes: Hügellandschaft und Seen bis zu den hohen Bergen Westen.
266 Kilometer von Maria Rojach im Lavanttal bis Maria Luggau im Lesachtal. www.marienpilgerweg.at