Leben/Gesellschaft

Im Tal der Geier

Der Regen hat aufgehört. Die Dreitausender im Osttiroler Debanttal sind nebelverhangen. Nur einige von Blaualgen geschwärzte Felsbänder und Lawinenrinnen, die bis zu den Almen hinunterreichen, sind zu sehen.

Hier steht Michael Knollseisen mit zwei Beinen fest auf der Erde und einem in der Hand. Letzteres gehörte einmal einem Schaf. Als grausige Belustigung präsentiert der bärtige Südtiroler den Nationalpark-Gästen den "Hax’n", bevor er in einem Sack verschwindet, in dem der Rest des soeben aufgetauten Tieres steckt. Die spitzen Ausbuchtungen stammen von den Hufen des Schafs. Knollseisen, der die beiden jungen Bartgeier Felix und Kilian seit ihrer Auswilderung im Mai betreut, bringt dem Brüderpaar ihr Mittagessen.

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Der 40-jährige Wildbiologe marschiert über Geröllweiden und steigt den felsübersäten Steilhang bis zu einer Stelle unterhalb der sogenannten "Schwalbenwand" auf ca. 1900 Meter Seehöhe. Kahle Tierschädel, Knochen und weitere Hax’n zeigen die Fütterungsstelle an.

Ein Nationalpark-Gast, der fürs Radio über die Bartgeier berichtet, rutscht aus und landet zwischen stinkenden Kadavern. "Igitt." Dennoch: "Es ist unglaublich, was für reinliche Tiere Geier und Adler sind", sagt Greifvogel-Experte Franz Schüttelkopf von der Adlerwarte Burg Landskron. Mit ihren Schnäbel ziehen die Tiere ihr Gefieder ab. Wenige Stunden nach einem Schlachtfest, bei dem ein Weißkopfgeier (Gänsegeier) seinen langen Hals tief in die Eingeweide einer Gams versenkt habe, sehe man keine Blutspuren mehr.

Die beiden Bartgeier, die Knollseisen an Eltern statt umsorgt, haben ihn längst ausgemacht, bleiben aber auf Abstand, bis er den Futterplatz wieder verlassen hat. "Junge Bartgeier brauchen Fleisch, ältere ernähren sich nur von Knochenstücken", sagt er und sucht dabei die Umgebung des Futterplatzes nach Dingen ab, die hier nicht hergehören. Geier schlucken fast alles, auch liegen gelassene Mobiltelefone, ihre scharfen Magensäfte lösen die giftigen Inhaltsstoffe auf, die Tiere sterben.

Im gleichen Ausmaß, in dem die jetzt noch etwas tollpatschigen Vögel ihre Flugkünste verbessern – Bartgeier, Gänsegeier und mit Abstrichen auch der Steinadler sind hervorragende Segelflieger –, werden sie das Interesse am Futter verlieren, sagt der Tierkundler.

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Im kommenden Frühling sollen die Brüder ihre Kinderstube verlassen und sich ein Revier suchen, in dem es geeignete Steilwände zum Brüten gibt. Etwa im Tal der Geier bei Rauris, wo 1986 die ersten Bartgeier ausgewildert wurden. Das Überleben der beiden wäre ein weiterer Erfolg der Wiederansiedlung der vor 100 Jahren ausgerotteten Bartgeier im Alpenraum. Von insgesamt 300 nachgezüchteten, freigelassenen und seither geborenen Bartgeiern in den Alpen leben drei Jahrzehnte später noch 200 Tiere. Gemeinsam mit den Gänsegeiern, die nur Sommergäste sind, nützen die Bartgeier Fallwild und verendete Schafe, Ziegen und Kühe auf den Almen als Nahrung. Entsorgung à la nature, und gratis. Von den Tierkadavern bleibt nichts übrig.

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Dass Felix und Kilian wehrhaft sind, haben sie bewiesen. "Gemeinsam haben sie ein Steinadlerpaar aus dem Tal geschmissen", sagt Knollseisen, während er eine Fotofalle überprüft. Die beiden sind gewappnet für ein Überleben in rauer Umgebung. Geht es nach den Rangern, könnte der Kampf ums Überleben eine Spur rauer werden. Die Wiederkehr der Wölfe wird erwartet, ein Hirtenhund-Projekt ist in Planung. Bis heute halten sich Vorurteile: "Aber die Lämmer holt er doch", höre man über die Aas fressenden Geier, sagt Knollseisen. Die Sorgen einer Nationalpark-Besucherin aus Deutschland möchte man hingegen haben: "Was bedeutet das Wally in Geierwally?" Da ist selbst der Geier-Experte kurz sprachlos.

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