Leben/Gesellschaft

Ich war der Weihnachtsmann

Eins vorweg: Es gibt unpeinlichere Jobs, als im Bademantel mit einem vor den Bauch geschnallten Kissen durchs winterliche Wien zu wandern. Aber, genau: Ich war jung und brauchte das Geld. Und so kam es, dass mich eines bitterkalten Morgens vor vielen, vielen Jahren ein Telefonanruf unversehens zum treuen Gehilfen des Christkinds machte. Das darf man sich allerdings nicht allzu feierlich vorstellen. "Heast Andi! Schnelles Geld – hast Interesse?", bellte es im Dunkel der Dämmerung aus dem Telefonhörer. Erraten, es war nicht das Christkind, das mich unter all den Erdenbürgern für seine Zwecke auserkoren hatte, sondern ein für seine Management-Qualitäten bekannter Studienkollege.

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Eine Stunde später, die Sonne hatte sich in ihrem milchweißen Winterhemdchen gerade aus dem Bett gekämpft, sitze ich mit 40 anderen hoffnungsvollen Nachwuchsweihnachtsmännern in einem Seminarhotel an der Peripherie der Stadt. Raum F IV/2.7, der ist gar nicht so schwer zu finden, wenn man die starren Konventionen einer alphabetischen Reihung hinter sich lässt und keine Angst vor langen Souterrainfluren, Saunabereichen und Wellnessland-schaften hat. Zeitgleich tagende Gruppen von Versicherungskeilern, Taubenzüchtern und Erweckungs-gläubigen nach dem Meeting der Weihnachtsmänner zu fragen ist dabei wenig zielführend, sorgt aber durchaus für Heiterkeit im grauen Seminaralltag.

Endlich angekommen, ist man Teil einer Gruppe aus Studenten, Pensionisten, Punks und freundlich lächelnden mittelalterlichen Männern mit fragwürdigen Duschgewohnheiten, die gebannt einem Mann zuhören: Hans, ein mobiler und sportlicher PR-Manager Mitte 30, der uns im Sinne eines mobilen und sportlichen Schokoimperiums auf die kommenden, großen Aufgaben einschwingt. "Wir san net irgendwer", sagt Hans und lässt das goldene Gliederarmband seiner locker am braungebrannten rechten Handgelenk baumelnden Rolex klimpern: "Wir san der Weihnachtsmann."

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Genau. Einige von uns nicken, andere starren mit gierigen Augen auf die ungetoasteten Toastbrotsandwiches auf dem Tisch neben dem Eingang. "Wir ham Würde, Gewicht – und ein bissl Sinn für Humor, alles klar?" Dann gibt uns Hans den Satz mit auf den Weg, der unsere nächsten drei Wochen bestimmen soll: "Ho, ho, ho – ich bin der Weihnachtsmann, darf ich Ihnen den Tag mit einem Schokoriegel versüßen?" Wir wiederholen brav, mit Würde, Gewicht und ein bissl Sinn für Humor. "Supa", sagt Hans, "aber es sollt ein bissl mehr klingen wie von einem Steirer. Probiern wir das einmal: Hou, hou, hou!" – "Hou, hou, hou!", bellen wir zurück. "Genau, des wird scho", sagt der Rolexträger. Und: "Zwischen viertem und siebtem Dezember samma der Nikolaus. Da lasst’s des blöde ho, ho, ho einfach weg." Womit auch ein großer traditions-theoretischer Weihnachtsdisput endlich aufs Einfachste geklärt wurde …

Was mir nicht klar war: Ich befand mich damals in meiner ersten Casting-Show. Mein Nachbar, ein rosiger Pensionist mit weißem Echtbart, schaffte es nicht in die Finalrunde, weil er seine "Dritten" nicht vertrug und Hans prinzipiell etwas gegen zahnlose Weihnachtsmänner hatte. Drei der freundlichen mittelalterlichen Männer hatten eine zu ausgeprägte Morgenfahne und ein junger Punk, der aussah wie Catweazle mit grünen Haaren, wurde ebenfalls rausgevoted, weil er bis zu den Fingerspitzen tätowiert war. Hat der Weihnachtsmann nicht ohnehin ständig Handschuhe an? Meine zaghafte Solidaritätskundgebung wurde im Keim erstickt. "Oida, i bin wegen dem Buffet do. Hoit die Go, sonst dauert’s no länger", zischte Catweazle.

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Und so brachen wir Übriggebliebenen also auf, um Weihnachtsfreude zu verbreiten. Geniert man sich dabei? Ja, ausgiebig. Vor allem, weil die Wiener damals noch nicht an haikostümtragende Männer, Terror-Clowns und wandelnde Cheeseburger gewöhnt waren. Und man doch eine gewisse Hemmschwelle überwinden muss, um, in einem albernen Kostüm steckend, wildfremde Menschen anzusprechen, Frauen in den besten Jahren zu fragen, ob sie auch brave Mädchen gewesen seien, und betrunkenen Männern mit dem Krampus zu drohen. Mein Gott, was war mir das alles unangenehm! Als ich damals dachte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, wusste ich freilich noch nicht, dass ich nur ein paar Monate später, nach einem Anruf desselben Studienkollegen, als Schokokeks-Prinz in Strumpfhosen durch ausgewählte Supermärkte fegen sollte. Aber das ist eine andere Geschichte …

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In diesem Licht betrachtet, kommt man als Nikolo sogar ganz gut über die Runden. Besonders als mehr oder weniger klassischer mit echter Schokolade im Juteimitat-Sack. Auf der "Mahü" konfrontierte mich ein frustrierter Kollege mit meinem prinzipiell privilegierten Status. "Oida, du hast drei Sorten Schoklad! An deiner Stell würd i mi echt net beschweren!" Er selbst trug eine Art grünen Frottee-Strampelanzug und verteilte Flyer für eine Dessous-Kette. Er tat mir leid. "Schau, dass d’ weidakummst", sagte er, "in drei Wochn hob i a Bärenkostüm ois Reklam für den 80er-Rum und verteil Flaschln an die Leit – da wirst di anschaun. Da wü kana mehr was von dir wissen." Wo er recht hat, hat er recht, der Herr Kollege. Aber jetzt ist Weihnachten – und ICH habe die Schokolade.So schnell ist man also privilegiert und hat als Weihnachtsmann mit Mehrwert tatsächlich gute Karten. Wenn man die drei wichtig-sten Weihnachtsmannregeln beachtet:

1. Kleinen Kindern nie zu nahe kommen. Weil sonst sehr schnell der falsche Bart ab ist. Die Racker haben verdammt flinke Finger. Ansonsten sind sie dankbare Objekte für einen Ehrfurcht gebietenden, weihnachtsmännischen Auftritt. Außer man übertreibt es. Dann fangen sie an zu weinen. Und dann hat man die Mütter am Hals. Aber richtig …

2. Diskussionen mit altklugen Volksschülerinnen sollte man tunlichst vermeiden. "Warum hast du nur Süßigkeiten?" – "Weil ich der Nikolaus bin, der hat nur Süßigkeiten." – "Nein, der hat auch andere Sachen, nur nicht so teure wie der Weihnachtsmann. Und außerdem bist du nicht der Nikolaus sondern der Weihnachtsmann – du hast nämlich gar keine Bischofsmütze auf!"

3. Pubertierenden sollte man prinzipiell aus dem Weg gehen. Ihr Dasein ist einzig darauf ausgerichtet, Lehrern und jeder Art von Autoritätspersonen das Leben zur Hölle zu machen. Der Weihnachtsmann ist dafür der perfekte Sparringspartner – und kann ihnen nicht einmal mit einem Nachzipf drohen. Also: Finger weg!

Gab’s gar keine schönen, erhebenden Momente? Doch, schon auch. Von einer Telefonzelle aus (ja, ich studierte im alten Jahrtausend) telefonierte ich mit der Zentrale. Nein, nicht mit Hans, der lag längst wieder unter der Sonnenbank, aber mit einer seiner fleißigen Elfen. Draußen ging eine junge Mutter mit ihrem etwa fünfjährigen Sohn vorbei. Die kleine Schwester baumelte am Brustgeschirr der Frau, der Bub trug Jacke und Hose verkehrt herum. Herzerwärmend alternativ, diese kleine, zeitgemäß Heilige Familie. So Ausdruckstanz, Mutter-Kind-Yoga und immer auf der Suche nach pädagogisch wertvollem Holzspielzeug. "Da schau, Mama – der Weihnachtsmann!", krähte der Bub plötzlich ganz aufgeregt als er mich sah. "Mit wem telefoniert denn der?"

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Ich weiß, es war entwicklungspsychologisch total daneben, wie mir auch der erschrockene Blick der Mutter zu erkennen gab, aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen: "Mit dem Christkind", brummte ich aus meiner Zelle. Und dann passierte es: eine Art magische Metamorphose, eine spirituelle Transformation. Für einen kurzen Moment bekamen die Augen des Buben einen derart unschuldigen Glanz, dass auch mir ganz warm wurde um mein unterkühltes, studentisch zynisches Knechtruprechtherz. Der Blick des Buben, sein kindlicher, unverdorbener Glaube machte mich tatsächlich zum Weihnachtsmann. Alles war klar und rein, die Luft aus schwarzem Glas und die Sterne über uns darin gefangene Freudentränen. Alles war wahr – für den Bruchteil einer Sekunde … Und dann? Wie’s halt so ist im Leben: Alles geht vorbei. "Sag dem Christkind ich will einen Gameboy", schrie das Kerlchen plötzlich mit funkelnden Augen, "und ein Flugzeug und ein Raumschiff und den Roboter aus der Werbung … und … und … ich will, gib mir den Hörer!" Nur mit letzter Kraft konnte die entsetzte Mutter ihren Sohn von mir wegzerren.

Als mein Gabensack längst leer war und ich den Rentierschlitten besteigen wollte, um zurück auf den Nordpol zu fliegen, sah ich den kleinen Mann noch einmal, wie er, erschöpft und mit fiebrigem Blick, seine müde Mutter zu der magischen Telefonzelle mit dem direkten Draht nach ganz oben zurückzuzerren versuchte. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war ein heiseres: "Dann ruf halt du an, Mama – bittääääääääää!"