Leben/Gesellschaft

Wie viel Leid kann ein Kind ertragen?

Man hat ihr berichtet, dass der junge Mann aus Syrien aggressiv gegenüber anderen sei. Jetzt sitzt er ihr in der Ambulanz gegenüber. Türkan Akkaya-Kalayci fällt sofort auf, dass ihm zwei Finger an der rechten Hand fehlen. Daher erkundigt sie sich, ob ihm "das" auf der Flucht passiert ist. Die Ärztin spricht seine Sprache, weil sie selbst nahe der Grenze zu Syrien geboren wurde. Der noch minderjährige unbegleitete Flüchtling zuckt mit seinen Schultern, dann sagt er, als wäre das ganz normal: "Nein, das waren die Typen vom IS. Die haben mich beim Rauchen erwischt."

Auf die Tränendrüse

In Momenten wie diesen ist auch eine erfahrene Psychiaterin und Psychotherapeutin keine abgeklärte Helferin. Kann sie nicht professionell Abstand halten, wie im Lehrbuch verlangt. Drückt das Gehörte auf ihre Tränendrüse.

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Es sind Fragen wie diese, die ihr durch den Kopf gehen: "Wie viel Leid musste der 16-Jährige ertragen, dass er derart gleichgültig über die Verstümmelung seines Körpers erzählt?" – "Was erleben die Kinder in diesen Tagen?"

Ein kleiner, fensterloser Raum in einem Nebengebäude des Wiener AKH. Von hier aus leitet Frau Doktor Akkaya-Kalayci die Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie für Kinder und Jugendliche. Dieses Angebot ist weiterhin einzigartig in Europa: Hier werden seit bald zwanzig Jahren migrationsbedingte Störungen der jungen Patienten ganzheitlich behandelt.

Doch bevor patriotische Euphorie aufkommt, sei auch gesagt: Die Ambulanz, die an der Universitätsklinik angesiedelt ist, wird seit ihrer Gründung 1996 von der Gründerin im Alleingang geführt. Über zu wenig Arbeit kann sie sich nicht beklagen: "Ich habe mit 30 jungen Patienten pro Woche zu tun."

Auch mit deren schwer zu verarbeitenden Familiengeschichten: "Nie werde ich die todtraurige Mutter einer Patientin vergessen, die mir erzählt hat, dass man sie und ihre Mutter vergewaltigt hat, und dass man ihr dann den toten Sohn, der sie rächen wollte, vor die Haustür gelegt hat. "Derart verstümmelt, dass sie ihr eigenes Kind nicht erkannt hat."

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Der Andrang lässt nicht nach. Derzeit häufen sich die Anfragen aus Traiskirchen. Doch sie registriert hier nicht nur Beschwerden, die eindeutig auf Kriegs- und Fluchterlebnisse zurückzuführen sind, auch die fremde Umgebung kann das seelische Gleichgewicht stören.

Angst vor Entfremdung

Die Ambulanzleiterin hat festgestellt, dass sich ihre Landsleute vom Land in Wien anders verhalten als in den türkischen Metropolen: "Sie leben hier als Fremde, zurückgezogener, weniger selbstbewusst, rigider, religiöser, mehr auf ihre Traditionen bedacht."

Die Ärztin kann das heute bis zu einem gewissen Grad verstehen. Sie selbst ist 1993 gezielt nach Wien gekommen, nach Abschluss ihres Medizinstudiums in Istanbul, um hier die Facharzt- und Psychotherapie-Ausbildung zu absolvieren. "Wie so viele meiner Landsleute wollte ich nicht für immer bleiben. Und da gerät man schnell einmal in ein Spannungsfeld. Man hat Angst, in der Heimat den Anschluss zu verlieren. Will eventuell zurückkehren, aber dann nicht auch zu Hause fremd sein."

Sie selbst hat die Ausbildung und die Arbeit an ihrer Ambulanz derart beschäftigt und begeistert, dass bis heute nicht an eine Rückkehr in ihre Heimat zu denken war. Auch deshalb nicht, weil ihre Heimat weiterhin zu den unsichersten Regionen der Welt gezählt wird. Während Wien für sie, ihren Mann und ihre beiden schulpflichtigen Kinder eine absolut lebenswerte Stadt ist: "Ich habe mich hier von Anfang an wohl gefühlt." Ab und zu beschleichen sie jedoch Zweifel, ob alles zum Wohlfühlen ist.

Wahlplakate, die vor allem Angst und Hass erzeugen, verfehlen ihre Wirkung nie. Die Ärztin ist jetzt noch einmal betroffen. Sie erzählt von Kindern und schwangeren Frauen mit Migrationshintergrund, die mit akuten Traumata zu ihr in die Ambulanz kommen: "Sie erzählen, dass sie auf offener Straße beschimpft, bespuckt, mit Hunden bedroht und auch geschlagen wurden."

Gemeinsam mit der Medizinanthropologin Christine Binder-Fritz startet Türkan Akkaya-Kalayci Anfang Oktober einen weltweit neuen Universitätslehrgang an der MedUni Wien im Wiener AKH: In fünf Semestern wollen sie den Teilnehmer_innen praxisnah Transkulturelle Medizin und Diversity Care näher bringen.

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Anmeldung und Infos unter 0664 / 800 164 0200 bzw.hier.