Leben/Gesellschaft

Happy Birthday: 60 Jahre CERN

Seit 2012 ist für den Großteil der Menschheit die Welt, zumindest physikalisch, wieder in Ordnung. Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons ist der wichtigste Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik gefunden, jener Grundbaustein, der anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht.

Für die mehr als 10.000 CERN-Wissenschaftler, die sich in der Materie auskennen, beginnen hier erst die Probleme. Denn Higgs erklärt nur einen kleinen Teil der Masse der Teilchen, der Großteil rührt von "irgendwelchen dynamischen Prozessen her", sagt Jochen Schieck, Leiter des österreichischen Instituts für Teilchenphysik.

KURIER: Hat die Teilchenphysik nach der Entdeckung des Higgs-Bosons ausgedient?

Jochen Schieck: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Max Planck (deutscher Theoretischer Physiker, 1947) geraten, nur ja nicht Physik zu studieren, es gebe dort nichts mehr zu tun. Heute ist es ähnlich, mit der Entdeckung des Higgs-Bosons ist eine Ära vorbei, das Standardmodell funktioniert exzellent – bis auf ein, zwei Lücken. Ich stelle mir das Problem vor wie ein Haus mit mehreren Stockwerken. Man kennt sich in jeder Ecke seines Stocks aus, aber das Loch, durch das man ins nächste Stockwerk fallen würde, hat man noch nicht gefunden. Zu glauben, die Physik ist am Ende, halte ich für naiv.

Die Jagd beginnt also erst?

Das Standardmodell der Teilchenphysik umfasst drei von vier Wechselwirkungen, nicht aber die Gravitation (Schwerkraft). Das ist das offensichtlichste Problem. Wenn man vom Urknall ausgeht, erwartet man einen heißen Lichtblitz, der sich in Materie und Antimaterie verwandelt. Warum gibt es aber mehr Materie als Antimaterie? Das ist nicht verstanden. Wir können mit dem Standardmodell überhaupt nur 5 Prozent des Universums erklären, 25 Prozent sind die sogenannte "Dunkle Materie", der Rest ist "Dunkle Energie", die das Universum auseinandertreibt. Was das ist? Keine Ahnung. Es gibt genug zu tun.

Gibt es Anzeichen für eine neue Physik?

Es gibt zwei Möglichkeiten, nach neuer Physik zu suchen. Einerseits indem ich hohe Energien produziere und die Energien in Masse umwandle, das ist die direkte Suche wie sie bei ATLAS und CMS (Detektoren am Teilchenbeschleuniger, die Kollisionen aufzeichnen, Anm.) gemacht wird. Man kann neue Teilchen auch indirekt über Abweichungen bei Präzisionsmessungen nachweisen. Große Effekte wurden bisher nicht beobachtet, aber: es knirscht im Gebälk, man sieht hier und da 2-Sigma-Abweichungen (Maß für die Sicherheit von Ergebnissen, Anm.). Mein Eindruck: Die Physiker schöpfen neue Hoffnung.

Die fieberhafte Suche nach neuen Teilchen hat einen Grund: Das Standardmodell beschreibt zwar, was in der subatomaren Welt vorgeht, aber nicht, worum es die und keine anderen Eigenschaften hat. Theoretische Physiker sagen die Existenz neuer, schwerer Partikel voraus, die normale Teilchen wie das Higgs-Boson beeinflussen. Experimentalphysiker wie Schieck hoffen hingegen, dass sie etwas Neues finden, das in den Theorien nicht vorkommt, "das wäre äußerst befriedigend".

Das größt Labor der Welt ist für Außenstehende schwer zu durchschauen, 30 Arbeitsgruppen gehen hier, vereinfacht ausgedrückt, auf die Suche nach dem Ursprung von allem. Seit 60 Jahren erforschen Physiker am europäischen Kernforschungszentrum CERN (abgeleitet vom früheren französischen Namen Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) die Gesetze der Elementarteilchen. Mit der Teilchenschleuder Large Hadron Collider (LHC) verfügen die Wissenschaftler über die komplexeste Entdeckungsmaschine der Welt – und die coolste. Auf 1,9 Kelvin – minus 271,25 C – wird der modernisierte Teilchenbeschleuniger bis Anfang 2015 heruntergekühlt. Erst bei dieser Temperatur können Teilchen mit einer Energie von 14 TeV (Teraelektronvolt) – doppelt so viel als je zuvor – aufeinander zuschießen.

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Im LHC-Vakuum, das jenem im Weltraum gleicht, werden in wenigen Monaten Milliarden von Protonen oder Blei-Ionen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander losjagen. Bei Zusammenstößen entstehen Regen von Folgeteilchen, die mithilfe von Detektoren von der Größe mehrstöckiger Häuser analysiert werden (im Bild: der CMS-Empfänger). Die Zahl der auswertbaren „Unfallbilder“ steigt mit dem modernisierten Teilchenbeschleuniger von 20 Millionen auf 40 Millionen.
Was Physiker, Techniker und Ingenieure in dieser in 125 m Tiefe im Boden verlaufenden Riesenröhre veranstalten, ist nichts anderes als die Inszenierung des Urknalls. Die Physiker versuchen den Baukasten der Schöpfung zu enträtseln und dabei die größten Fragen der Menschheit zu lösen: Warum gibt es unsere Welt? Wie ist alles entstanden? Wie entwickelt sich unser Universum? Und was kommt danach?
Es ist pure Grundlagenforschung, die am CERN (Jahresbudget 850 Millionen Euro) betrieben wird. Der praktische Nutzen ist enorm: Moderne nuklearmedizinische Diagnostik wäre ohne frühere Erkenntnisse am CERN nicht vorstellbar. Das World Wide Web, ohne das wir weder im Internet surfen , noch eMails verschicken könnten, war einst ein Nebenprodukt der Arbeit von CERN-Forschern.