Leben/Gesellschaft

Psychotherapie: Wie wir mit Achtsamkeit globale Krisen überstehen

Ihr Forschungsschwerpunkt liegt an der Schnittstelle von Kunst und Psychologie. Seit 2014 ist Dagmar Weidinger "Unterwegs im weiten Land". Für ihr gleichnamiges Buch hat sie zahlreiche Gespräche mit bedeutenden Vertreterinnen und Vertretern der internationalen Psychotherapie-Szene sowie aus angrenzenden Bereichen geführt.

Weidinger selbst ist freie Wissenschaftsjournalistin, Universitätslektorin und Kuratorin für "Outsider Art" in Wien. Sie hat in Kunstgeschichte promoviert und das psychotherapeutische Propädeutikum absolviert.

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Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, globale Krisen, Teuerung: Haben Ängste und psychische Erkrankungen zugenommen?

Laut dem letzten Gesundheitsbericht der WHO stehen die Länder Europas angesichts der Auswirkungen der Pandemie vor „gewaltigen Herausforderungen“ – nicht zuletzt im Bereich der mentalen Gesundheit. Das sehen natürlich auch meine InterviewpartnerInnen so. In meinem Buch ging es mir aber viel mehr um die Frage: Was sind Aspekte, die uns verbinden?

Und was verbindet uns?

Eine mögliche Antwort, die die Ergotherapeutin Martha Pany gibt: Die Tatsache, dass wir alle verletzlich sind.

Welche Ratschläge können uns hier die Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, die Sie interviewt haben, geben?

Das wäre wohl am ehesten der Rat, sich Gleichgesinnte zu suchen. Egal ob es sich um den Klimawandel oder die Corona-Pandemie handelt, Vernetzung ist jener Faktor, der darüber entscheiden wird, ob wir diese Krisen bewältigen oder nicht.

Heißt das, dass wir uns mehr engagieren müssen?

Nein, das ist damit nicht gemeint. Es geht viel mehr darum, sich im Kleinen, in seinem unmittelbaren Umfeld einzubringen. Die bekannte Tiefenpyschologin Ingrid Riedel setzt sich in meinem Buch intensiv damit auseinander. Sie meint, als Menschen wollen wir das schützen, was wir lieben – und das ist vielleicht das Fleckchen Grün in Form des Parks vor unserer Haustür oder der nahegelegene See. Um Naturschutz wirklich ernst nehmen zu können, braucht es eine emotionale Beziehung zur Natur. Diese ist für heutige Heranwachsende gar nicht mehr so selbstverständlich – da sind wir alle als Eltern, Lehrer und Lehrerinnen, Betreuungspersonen gefordert, mit Kindern die Natur so oft und intensiv wie möglich zu erleben.

Und was hilft Ihnen persönlich?

Tatsächlich bin ich recht achtsam geworden, was meinen Medienkonsum betrifft, da ich bemerkt habe, dass ein gewisses Ausmaß an Negativ-Schlagzeilen lähmend auf mich wirken kann. Ich suche daher bewusst nach positiven Entwicklungen oder Initiativen. Konstruktiven Journalismus halte ich für sehr wichtig für das eigene Wohlbefinden und um selbst die Kraft zu schöpfen, sich dort, wo es möglich ist zu engagieren. Eine ausführliche Reportage ist mir außerdem immer noch viel lieber als ein kurzer Schnipsel in den sozialen Medien. Ich finde, man sollte nicht unterschätzen, was ein gehetzter Medienkonsum mit Geist und Körper macht. Vielleicht bin ich da auch familiär geprägt. Meine Mutter in Linz schreibt mir ab und zu lange Briefe. Das erlebe ich als wohltuende Entschleunigung.

Kann psychotherapeutisches Wissen auch einen Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise leisten?

Die Psychotherapie hat ihre größte Kompetenz darin, Transformationsprozesse zu begleiten. Sie könnte uns wesentliche Anregungen für einen notwendigen Bewusstseinswandel geben. Und sie könnte helfen, Konsumbeschränkungen nicht nur als Mangel wahrzunehmen.

Themenwechsel: Könnten Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen mit ihrem Wissen die voranschreitende Spaltung in unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen?

Die Psychotherapie, besonders die Tiefenpsychologie kennt sich extrem gut aus beim Thema Spaltung. Ich habe bereits anlässlich des Flüchtlingsstroms 2015 mit Verena Kast über den kollektiven Schatten gesprochen, und wie wir damit umgehen können. Dieser Schatten führt dazu, dass wir gewisse Gruppen in unserer Gesellschaft ablehnen. Anstatt sich mit dem eigenen Schatten zu befassen, projiziert man ungeliebte eigene Anteile auf andere. Bereits Kinder sollten in der Schule ein Fach wie Psychoedukation haben, in dem sie über diese Dinge lernen. Letztlich hat das auch mit dem Erlernen von Demokratie zu tun, denn Demokratie bedeutet auch, unterschiedliche Meinungen nebeneinander stehen lassen zu können.

Lässt sich daraus schließen, dass auch unsere Politik Therapie benötigt?

Auf jeden Fall. Die Politik hat weltweit ein riesengroßes Problem: Sie hat vielerorts ihre Werte und positiven Zukunftsbilder verloren, wie es der Kulturwissenschaftler Walter Ötsch formuliert. Aus der Psychotherapieforschung wissen wir, dass Menschen immer in Bildern denken. Würde man die Bewältigung der Klimakrise ernst nehmen, müsste man daher neben den dystopischen Zukunftsbildern (Dystopie ist eine meist in der Zukunft spielende Erzählung, in der eine erschreckende oder nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung dargestellt wird; Anmerkung) viel mehr positive Visionen entwickeln, wie wir als Menschheit in fünfzig Jahren leben wollen.

Und wie soll das gehen?

Wir brauchen die Horrorszenarien, um tätig zu werden, meint Walter Ötsch. Bleibt es jedoch allein dabei, fühlen sich viele Menschen überschwemmt oder hilflos. Dies treibt sie in die Arme der Populisten und Populistinnen, die diese Stimmung gezielt für sich nutzen – eben indem sie sagen: „Es gibt gar keinen Klimawandel“ oder: „Schuld sind die anderen.“

Umgekehrt: Braucht die Psychotherapie mehr politisches Denken?

Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten werden medial gerne nach ihrer Expertise gefragt – häufig folgen jedoch bereits die Fragen einem neoliberalen Schema. Sprich: Wie werde ich möglichst rasch wieder psychisch fit, resilient, wie komme zu mehr Ressourcen und so weiter? In diesen Fragen enthalten ist die Vorgabe, möglichst rasch wieder am Arbeitsmarkt zu funktionieren. Hier passiert also ein Stück weit eine „Privatisierung der Schuld“, wie es die Feministin Bettina Zehetner.

Putin, Trump, Bolsonaro, Orban, Kicklaus der Sicht der Psychotherapie: Was sagen diese Charaktere über unsere Zeit?

Der Suchttherapeut Heinz-Peter Röhr äußert dazu eine spannende Theorie in meinem Buch. Was haben all diese PopulistInnen letztlich gemein: Sie schüren den Hass. Und Hass, sagt Röhr, wirkt ähnlich wie eine Droge. Viele Menschen erleben sich selbst als wenig erfolgreich. Wenn sie sich diesen Personen und ihren Botschaften anschließen, spüren sie intuitiv, dass ihnen das eine Möglichkeit bietet, ihr Selbstwertgefühl aufzublasen. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob es um Hass gegen Juden, Migranten oder die Regierung geht. Ähnlich wie beim Drogenkonsum kann jedoch auch Hass das Selbstwertgefühl immer nur kurz stabilisieren.

Krieg, Trauma und Flucht sind aktueller denn je. Was bedeutet das für die psychotherapeutische Versorgung in Österreich?

Zunächst, dass das Angebot an muttersprachlicher Therapie massiv aufgestockt werden müsste, denn man weiß ja, dass die Prävalenzrate für PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung; Anmerkung) bei geflüchteten Menschen besonders hoch ist: Eine Studie aus Deutschland weist diese bei 40 Prozent für neu angekommene Asylwerber und Asylwerberinnen aus. Die Traumaforschung sagt außerdem, dass Zeit eine wesentliche Rolle spielt. Wird eine Person möglichst rasch betreut, ist die Chance auf einen guten Verlauf um ein Vielfaches höher, als wenn die erste Hilfe nach Monaten kommt.

Und wo stehen wir da in Österreich?

In Österreich beschränkt sich das Angebot auf einige wenige Vereine, der wohl bekannteste ist Hemayat. Dort stehen derzeit über 500 Personen auf der Warteliste, davon 130 Kinder. Man wird nicht jedem und jeder von ihnen sofort Einzeltherapie ermöglichen können – auch bei noch so rascher Aufstockung der Plätze. Was aber möglich sein sollte, wäre die Einrichtung von mehr Gruppenangeboten. Wir bräuchten da sicherlich einen institutionellen Schub. Vielleicht würde es helfen, sich an erfolgreiche Projekte der Vergangenheit zu erinnern. Ich denke da zum Beispiel an Alfred Adler, der in der Zwischenkriegszeit im Zuge der Wiener Schulreform rund dreißig Erziehungsberatungsstellen aufgebaut hat. Die Individualpsychologie steht bis heute in dieser Tradition.

Eine gar nicht kleine Gruppe an Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen aus der Ukraine lebt seit mehreren Monaten in Wien und darf hier nur sehr eingeschränkt arbeiten. Könnten sie nicht längst Abhilfe schaffen?

Ohne die Details zu kennen: In Österreich ist die Ausbildung zum Psychotherapeuten bzw. zur Psychotherapeutin seit dem Jahr 1990 gesetzlich geregelt. Das heißt, wer hierzulande tätig ist, hat eine sehr fundierte theoretische und praktische Ausbildung durchlaufen. Personen aus Drittstaaten wie der Ukraine müssten eigentlich die hierzulande vorgeschriebene Ausbildung absolvieren. Das Gesundheitsministerium meint jedoch, dass im Einzelfall geprüft werden kann, ob die im Ausland erworbene Qualifikation bereits einen Teil dieser Ausbildung abdeckt. Natürlich ist es verlockend zu sagen: Kürzen wir das ab und lassen die Geflüchteten gleich loslegen. Andererseits: Wer würde sich von einem Chirurgen oder einer Chirurgin operieren lassen, der beziehungsweise die eine Ausbildung im Ausland absolviert hat, von der noch nicht klar ist, ob sie unseren Standards entspricht? Eine genaue Prüfung macht schon Sinn. Dies möglichst rasch zu tun, wäre allerdings das Gebot der Stunde, damit möglichst viele ukrainische Therapeuten und Therapeutinnen so schnell wie möglich tätig werden können.