Leben/Gesellschaft

Die Geschichte der Karten

Die Geschichte der Kartografie war lange eine Geschichte der Verzerrungen. Auf der um 1436 herausgegebenen Weltkarte von Andrea Bianco waren zwar erstmals die Pole eingezeichnet, doch die Erde hatte die Form eines riesigen Fisches, passend zum Entstehungsort der Karte, Venedig. 1650 kamen niederländische Karten im Umlauf, die Kalifornien als Insel zeigten, die im Meer treibt. Dieser geografische Unsinn hielt sich bis 1865. Völlig verwirrt wäre der moderne Reisende, wenn er die Kartenwerke der Antike verwenden müsste. Eratosthenes von Alexandria ließ um 200 v. Chr. den Äquator quer durch die Insel Rhodos verlaufen. Die damals bekannte Landmasse zeichnete er in Form eines Schädels. Das kann man belächeln und Gott für die Erfindung von GPS danken.

Karten auf den Tisch!

Oder man kann sich in diese geheimnisvolle Welt der Karten hineintigern. Wie Simon Garfield. Der Brite liebt Karten, "eine Karte sagt mehr als 1000 Worte". Der britische Sachbuchautor zeichnet in seinem neuen Buch die Geschichte der Karten nach. Das vorläufige Ende der Entwicklung stellt eine Weltkarte von Facebook dar. Eine blaue Fläche ist mit hauchdünnen Linien überzogen, trotzdem wird das Kartenwerk seltsam. Dieser Eindruck entsteht, weil Facebooks Weltkarte zwar aussieht wie eine Standardprojektion, aber in Wahrheit etwas ganz andres zeigt als die Facebooknutzer auf der ganzen Welt. Sie zeigt eine Karte der Facebook-Kontakte. 500 Millionen Kartografen hatten die Karte zeitgleich gezeichnet. Wie würden antike Geografen diese Darstellung deuten?

"Ptolemäus, Eratosthenes und wie sie alle heißen würden die Qualität unserer Karten als natürliche Weiterentwicklung ihrer eigenen Bemühungen sehen, aber sie würden ungläubig staunen über die Verbreitung des Kartenmaterials", meint Garfield. Am meisten würde sie erstaunen, dass jeder Zugang zu Karten hat. Die digitale Revolution habe das Kartieren stärker verändert als alle Neuerungen der Kartografie der vergangenen Jahrhunderte. Karten-Apps auf Handys, Google Earth auf Computern, eine Generation wächst heran, die sich die Orientierung ohne Navi – das Wort kommt von lat. oriens, Osten – gar nicht mehr vorstellen kann. Das hat den Nachteil, dass das Wissen um die Orts- und Entfernungsbestimmung mittels Sonnenstand, Kompass und Faltkarte abhanden kommt, "die jüngere Generation sieht die Welt mittlerweile als Zwei-Zoll-Monitor. Früher musste man seinen Weg von A nach B suchen, heute bin ich im Zentrum der Karte, via Stellit immer im Kontakt mit der Außenwelt."

"Früher musste man seinen Weg von A nach B suchen, heute bin ich das Zentrum der Karte."Simon GarfieldKarten-ForscherDie digitale Karte der Zukunft werde auf die Bedürfnisse und Vorlieben ihrer Benutzer maßgeschneidert sein. "Wir werden interaktive Stadtpläne benutzen, die mir gleich nach der Landung in Wien den Weg zu einem Spezialgeschäft für Bergschuhe oder für Modelleisenbahn anzeigt, je nach Interesse."

Im Mittelalter, auch das erfährt man bei der Lektüre von "Karten!" (siehe Kasten rechts), hätt’s das nicht gegeben. Da sahen alle Weltkarten, Mappae Mundi genannt, gleich aus. Die Ursache: Alle Kartografen folgten den Anleitungen eines um 1190 von einem Ritter im Heer von Richard Löwenherz verfassten Handbuchs, in dem genau stand, was man auf einer Weltkarte finden durfte. Eine Liste mit erlaubten 484 Ortsnamen lag bei. Geregelt war aber auch die räumliche Beziehung der Orte zueinander: Orte lagen über, unter oder gegenüber von anderen, Regionen waren voneinander abgegrenzt, und Flüsse erstreckten sich. Und das klingt wieder sehr modern.

Kuriose Karten