Leben/Gesellschaft

Der andere Vorfahre des Hausrinds

Klein, aber stämmig und zäh: Die Hausrinder der Menschen, die vor rund 5000 Jahren in der Ufersiedlung Twann am Bielersee im Schweizer Jura lebten, waren vergleichsweise winzig. Ihre Besitzer, Vertreter der sogenannten Horgener Kultur, kannten das Joch, und sie nutzten bereits Wagen mit Vollscheibenrädern. Ihre kleinen Ochsen setzten sie zum Ziehen schwerer Lasten ein, obwohl die mit einer Schulterhöhe von 1,12 m nicht viel größer waren als eine ausgewachsene Ziege.

Schweizer Forscher rund um den Archäozoologen Jörg Schibler von der Universität Basel haben anhand der DNA eines fossilen Mittelfußknochens eines Rindes festgestellt, dass diese spezielle Haustierform aus einer Kreuzung mit einem europäischen Auerochsen hervorgegangen ist. Ein domestizierter Stier wurde mit einer wilden Kuh gekreuzt.

Schibler erklärt: "Theoretisch ist es möglich, dass es ein einmaliges und zufälliges Kreuzungs-Ereignis war, aber man soll die Leute von damals auch nicht unterschätzen, die gewisse Eigenschaften der wilden Vorfahren ihrer Haustiere bewusst wieder in die Haustierherde reingetragen haben, um eine kleinere, aber robustere Form von Hausrindern zu erhalten."

Neuer Stammbaum

Bisher waren Forscher davon ausgegangen, dass der europäische Auerochse im Stammbaum des Hausrindes keine oder eine bisher unklare Rolle gespielt hat. Die heutigen Hausrinder in Europa seien auf eine kleine Herde von rund 80 asiatischen Auerochsen im Nahen Osten, im Gebiet zwischen Südostanatolien und Syrien, zurückzuführen. Sie wurden vor ca. 10.500 Jahren erstmals als Nutztiere gehalten.

Die neuen Befunde der Schweizer Umweltwissenschaftler zeigen aber, dass die Stammesgeschichte unseres Hausrindes komplizierter abgelaufen ist.

Der genetisch analysierte Knochenfund war bereits in den 1970er-Jahren morphologisch bestimmt worden. Aus der metrischen Analyse ging schon damals hervor, dass es sich um ein außergewöhnlich kleines Exemplar handeln musste. Die genetischen Untersuchungsmethoden für alte DNA sind jedoch erst heute so weit verfeinert, dass eine tiefer gehende Untersuchung möglich ist.

Aus der DNA des Tieres lässt sich eine mütterlicherseits vererbte Signatur herauslesen, eine kurze Gen-Sequenz – die sogenannte "P-Haplogruppe", die nur bei europäischen Auerochsen vorkommt. Asiatische Auerochsen zeigen eine andere Signatur, die sogenannte "T-Haplogruppe", die in Zentraleuropa "bislang nicht nachgewiesen wurde", erläutert der Umweltwissenschaftler.

Damit gilt dieser Fund als der erste unzweifelhafte Beleg dafür, dass sich die europäischen weiblichen Auerochsen auch mit Hausrindern aus dem Nahen Osten vermischt haben. Diese waren Jahrtausende vor der beschriebenen Kreuzung mit Viehzügen aus Anatolien nach Europa gekommen.

Die Domestikation der Auerochsen muss man sich als schwieriges Unterfangen vorstellen. In der Nacheiszeit erreichten die Tiere zwar nicht mehr die eiszeitlichen 1,9 m, aber mit 1,6 m Schulterhöhe und 80 cm langen Hörnern waren die Stiere immer noch imposante Gestalten. Der Unterschied zwischen dem Auerochsen und dem winzigen Hausrind ist "kolossal", sagt Schibler. Für seine Mitarbeiterin Angela Schlumbaum ergeben sich aus dieser Diskrepanz einige weitere Forschungsfragen: "Wie schwierig war die Begattung oder auch die Geburt in diesem Fall? Und wie viele Generationen hat es gedauert, damit derart kleine Tiere entstehen konnten?" An den Antworten wird gearbeitet.

In heutigen europäischen Tierrassen finden sich keine Spuren des Auerochsen mehr, obwohl die europäische Unterart erst im 17. Jahrhundert ausstarb – die letzte Kuh starb 1627 in Jaktorów (Polen). Europäische Auerochsen-DNA ist es laut Schibler nur noch in zwei chinesischen Hausrind-Rassen nachweisbar.

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