Leben/Gesellschaft

Anderssein darf sich sehen lassen

Ja, dürfen sie denn das? Da meint man eine Frau mit perfekten Rundungen zu bestaunen, die dasteht, wie Gott sie schuf, mit vielleicht etwas zu straffem Busen, aber doch eindeutig weiblichen Geschlechts.

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Und siehe da: Einen halben Meter weiter rechts ist dieselbe Nackte abgebildet, wieder mit gefälligem Dekolleté, aber da hängt noch ein Penis dran, der da sogar hingehört. Bei dem Modell für den Wiener Life Ball handelt es sich nämlich um Transgender-Woman Carmen Carrera, die heute zwar als Frau lebt, ihr männliches Geschlecht aber nicht entfernen ließ. Es ist die programmierte Erregung: Das Life-Ball-Plakat 2014, gestaltet von Starfotograf David LaChapelle, ist als "Ode an Toleranz und Akzeptanz" konzipiert – und als Provokation.

Die ist auch, zumindest zum Teil, gelungen. Obwohl sich der Organisator der Benefiz-Veranstaltung, Gery Keszler, einen lauteren Aufschrei erwartet hätte. Mehr als 100 Beschwerden gingen seit Beginn der Woche beim Werberat ein, einige Penisse auf den in Wien affichierten Plakaten wurden von Passanten übermalt. Am lautesten wird freilich in den sozialen Netzwerken getobt und gegeifert. Eine oft geäußerte Befürchtung auf Facebook und Twitter: Wie soll ich das bitte meinem Kind erklären?

Überforderung

Sandra Vélasquez ist Kinderpsychologin in Wien. Die Aufregung um das Life-Ball-Plakat ist bereits bis in ihre Praxis vorgedrungen. "Zwei verunsicherte Eltern haben nachgefragt, wie sie damit umgehen sollen. Dieses Thema geht ganz tief in die Glaubens- und Wertesysteme der Menschen", sagt Vélasquez. "Als Teenies haben wir nackte Menschen heimlich unter der Decke angeschaut, jetzt hängen Bilder von Nackten überall in der Stadt. Viele sind damit total überfordert."

Die Psychologin rät ihren Klienten zu einem ehrlichen, altersgerechten Umgang mit dem Thema "Anderssein". "Die Meinung der Kinder bitte zulassen." Es könne nämlich gut sein, dass Erwachsene schockiert reagieren, während Kinder die Plakate lustig finden, sagt Philipp Ikrath vom Institut für Jugendkulturforschung.

Einem kleinen Kind, das vor einem der Life-Ball-Plakate stehen bleibt, könnte man etwa sagen, dass es Männer gibt, die Frauen sein wollen, und umgekehrt, sagt Vélasquez. "Kinder verstehen, dass Transgender eine gesellschaftliche Realität ist."

Bei älteren Kindern und Jugendlichen könne man etwas konkreter werden und zum Beispiel antworten, dass der menschliche Körper eben vielfältig sei. Ikrath: "Das gibt es halt auch, selbst wenn es nicht allzu häufig vorkommt."

Wobei der Jugendforscher die Sorge um das Seelenheil der Kinder nur als vorgeschobenes Argument betrachtet. "Bei Dingen, die Erwachsenen Unbehagen bereiten, sind Kinder eine beliebte Projektionsfläche." Das schrille Image des Life Balls sei zwar mittlerweile allgemein akzeptiert, als ein Refugium für Menschen, die anders sind. Im Alltag wolle man mit diesem Treiben aber nicht konfrontiert werden.

Dabei ist die Botschaft des Plakates mehr eine Aufforderung zu mehr Toleranz als eine Kampfansage ans Establishment, erläutert Ikrath. Ganz im Sinne des diesjährigen Life-Ball-Stargastes Conchita Wurst: "Es gibt mehr als Schwarz und Weiß. Es klingt kitschig, aber am Ende sind wir alle gleich."

Adoptionsrecht.Kinder brauchen beides – Vater und Mutter. So lautet eine weit verbreitete These, mit der begründet wird, warum Homo-Paare keine Kinder adoptieren dürfen. Dabei entwickeln sich Kinder aus Regenbogenfamilien mindestens genauso gut wie Kinder von heterosexuellen Eltern. Das belegen zahlreiche Studien, die zu diesem Thema weltweit durchgeführt wurden und immer noch werden.

Eine der größten und aktuellsten Untersuchungen führt derzeit die Universität Melbourne in Australien durch. Ihr – für manche vielleicht erstaunliches – Zwischenergebnis: Der Gesundheitszustand dieser jungen Menschen ist sogar besser als der von Kindern, die Mutter und Vater haben. Auch der familiäre Zusammenhalt ist in den Homo-Familien offensichtlich größer als in traditionellen Konstellationen.

Damit junge Menschen zu emotional stabilen Erwachsenen reifen, benötigen sie jedenfalls Eltern, die sich für sie engagieren, ihnen Halt geben und sie fördern. Und es ist egal, ob die Kinder Mama und Papa oder zwei Mamas oder zwei Papas haben.
Dass sie in einer Regenbogenfamilie aufwachsen, schadet Kindern also meist nicht. Allerdings: Dort, wo Homo-Partnerschaften vom Staat nicht akzeptiert werden, leiden die Kinder unter der speziellen familiären Zusammensetzung.

Gemeinsam erziehenUnterschiede gibt es in der Art und Weise, wie sich homo- und heterosexuelle Eltern die Arbeit aufteilen. Bei lesbischen und schwulen Paaren ist es gängige Praxis, dass jeder sich in gleichem Maße ums Kind kümmert. Gleichgeschlechtliche Paare engagieren sich meist auch viel stärker innerhalb der Familie, indem sie mehr gemeinsam unternehmen und Konflikte gemeinschaftlich austragen.

Unterschiede gibt es auch im Erziehungsstil: Nirgendwo werden Kinder so gut in ihrem Tun und Sein unterstützt wie bei lesbischen Eltern. Wohingegen schwule Paare meist ihren Kindern mehr Eigenständigkeit abverlangen und sie weniger unterstützen. Strafendes Verhalten legen eher Eltern an den Tag, die dem klassischen Rollenbild verhaftet sind. Letztendlich gilt: Wo Kinder einen Halt in der Familie haben, wachsen sie gut auf.