Leben/Gesellschaft

Wiener Kongress: Als das Europa von heute geboren wurde

Schamhaft waren sie, die Damen zur Zeit des Wiener Kongresses.

Und rannten "unten ohne" herum.

Hosen – auch Unterhosen – galten vor 200 Jahren als schamlos, standen für Männlichkeit und inkludierten den Herrschaftsanspruch. Nachzulesen im neuen Buch "Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europa" (Gerold-Verlag).

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Herausgegeben wurde es unter anderem von Wolfgang Maderthaner, der als Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs an der Quelle sitzt: "Wie haben hier den schriftlichen Nachlass des Wiener Kongresses, an erster Stelle die Schlussakte, die heute UNESCO-Kulturerbe ist", erzählt er im KURIER-Interview. Damit konnten 24 Historiker auf eine Unmenge von Schriftgut, das damals angefallen ist, zurückgreifen, einen breiten, oft überraschenden Blick auf das erste Gipfeltreffen der Weltgeschichte werfen und das Klischee des tanzenden Kongresses wissenschaftlich hinterfragen.

"Wir veröffentlichen Dokumente, die man bisher nicht gesehen hat", sagt der Historiker. Und so erfährt man im Mode-Kapitel, dass das Wiener Schneiderhandwerk damals das größte Gewerbe war. "Der Kongress war ein unglaublicher Schub – in vielerlei Hinsicht. In der Mode wird der Geist des Kongresses mittransportiert."

Neue Ordnung

Die Leute kleideten sich wie zur französischen Revolution – weiter, fließender, freier. Zugleich distanzierten sie sich von der Revolution. Der Kongress stand im Zeichen neuer Formen: Man wollte nicht alles zurücknehmen und das zurückholen, was vor der Französischen Revolution und Napoleon war, sondern eine neue Ordnung befestigen."

Womit wir mitten in der hohen Politik wären.

Herbst 1814: Napoleon sitzt entmachtet auf Elba, eine Ära revolutionärer Umbrüche endet und hinterlässt total verschobene Grenzen. Beim ersten Gipfeltreffen der Weltgeschichte sollte die Aufteilung Europas neu verhandelt werden. In Wien.

Wien war damals zwar eine prächtige, wohlhabende Stadt, die drittgrößte Metropole Europas, aber für einen derartigen Gäste-Ansturm nicht gerüstet: Könige, Fürsten, Diplomaten reisten an und hatten Ehepartner, Leibgarde, Diener, Zofen und Küchenpersonal im Schlepptau – insgesamt wohl um die 100.000 Personen. "Da wurden Bürgerhäuser geräumt und Menschen in Ersatzquartieren in der Vorstadt untergebracht", erzählt Maderthaner. "Adelige bildeten Wohngemeinschaften und wurden streng hierarchisch gestaffelt untergebracht. Zar Alexander, der ranghöchste Gast, bezog Quartier in der Amalienburg, während Mitglieder der kaiserlichen Familie nach Schönbrunn übersiedeln mussten.

Auf den Tag genau vor 200 Jahren stimmte das Klischee: Der Kongress tanzte in erster Linie. Maderthaner: "Die Verhandlungen sind erst ab dem Moment richtig in Schwung gekommen, als Napoleon zurückkehrte (im März 1815). Da war Feuer am Dach und man sammelte sich rasch am Verhandlungstisch. Davor gab man sich den Lustbarkeiten hin und übte sich in informellen Gesprächen, in denen die unterschiedlichen Interessen ausgelotet wurden."

Neue Staaten

Als die Verhandlungen dann aber in Schwung kamen, wurde Europa wie geplant neu geordnet: Die Niederlande wurden gegründet, die Karte Italiens neu gezeichnet, die Schweizer Neutralität begründet, Deutschland neu geordnet, der Sklavenhandel erstmals geächtet. Historiker Maderthaner betont, dass man nicht einfach eine revanchistische Position Frankreich gegenüber einnahm und so den Verlierer demütigte.

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Der Versöhnungsfrieden mit Frankreich schuf die Grundlage für eine europäische Mächte-Ordnung, die Revolutionen und die Entstehung neuer Staaten verkraften konnte.

Die Historiker haben neuerdings auch einen frischen Blick auf die Verhandlungen gewonnen, steht im opulentesten der Buchneuerscheinungen zum Jahrestag nachzulesen. Maderthaner: "In der Schule haben wir gelernt: Der Wiener Kongress stellt die alte, feudale, vornapoleonische Weltordnung wieder her – ist also reaktionär." Jetzt betont man, dass der Kongress der Versuch war, auf höchster Ebene einen Ausgleich der nationalen Interessen zu finden. Schwere Konflikte sollten künftig auf Kongressen begelegt werden. "Die Bemühungen mündeten in die bisher längste Friedensperiode."

Das Europa von heute darf also als ein Urenkel des Wiener Kongresses gelten. Er war ein erster Schritt in Richtung eines vereinten Europa mit einer Kernbotschaft, sagt Maderthaner: "Konflikte müssen verhandelt werden."


239 Tage dauerte der Wiener Kongress

250.000 Wiener beherbergten 100.000 Gäste aus ganz Europa

247 Herrscherhäuser reisten an 1600 Portionen Kaffee wurden in der Hofburg täglich an die fürstlichen Gäste ausgegeben

14.000 Soldaten wurden am Jahrestag der Vielvölkerschlacht von Leipzig – dem größten Fest des Kongresses – verköstigt. Die Holztafel füllt die komplette Länge der Prater Hauptallee

43 größere Tafeln wurden nur von 22. September bis 31. Oktober veranstaltet. 800 Personen wurden dort versorgt

19 Bälle veranstaltete allein Metternich

10.000 Eintrittskarten wurden für die große Redoute am 9. Oktober 1814 verkauft

230 Kutschen und 1200 Pferde zählte der Bestand des Kaisers nach dem Kongress. Davor waren es 60 bzw. 500

38.000 schriftlich bestellte Ausfahrten wurden damit bewältigt

100 Millionen Euro (umgerechnet auf heutige Verhältnisse und ungefähr) kostete die öffentliche Hand das Spektakel