Yasmina Reza: Wo ist der tätowierte Liebhaber mit dem SM-Halsband?
Von Peter Pisa
Es ist wieder an der Zeit, dass etwas sehr nervt in der Literatur ... und sei es anfangs bloß eine dumme Fliege, die durch die Wohnung fliegt und nicht ins Freie kann.
Also reißt man ihr ein Fenster weit auf – und sie fliegt ganz hinten in den Raum, sie entfernt sich absurderweise nicht, und DAS KANN NARRISCH MACHEN.
Bei der Pariser Schriftstellerin Yasmina Reza macht es narrisch und amüsiert. Im Roman "Babylon" führt sie erneut vor, wie Menschen ausrasten. (Seit ihrem Theaterstück "Der Gott des Gemetzels" gehört sie zu den Nervenspezialistinnen.)
Eine gewisse Elisabeth lädt zur Frühlingsparty. Die Sechzigjährige – Yasmina Reza ist erst 58 – ist ziemlich aufgedreht und schwer auszuhalten.
Eigentlich sollte man vor ihr flüchten und nicht über sie lesen, selbst wegen der Fliege erregt sie sich.
Hühner
Aber die Arme hat halt zu wenig Sessel und zu wenig Gläser. Wenn es losgeht, hat sie allerdings zu viele Sessel und zu viele Gläser. Ihr Mann hält sich im Hintergrund. Ihre Schwester hilft beim Vorbereiten. Ihre Schwester ist so verdammt gut gelaunt. Wieso?
(Elisabeth denkt:) Wieso habe ich keinen tätowierten Liebhaber mit Sadomaso-Halsband?
Auf der Party wird bekannt, dass Elisabeths ebenfalls eingeladene Nachbarin von oben nur dann Hühner verspeist, wenn sie weiß, dass die Hühner die Möglichkeiten hatten, auf Bäume zu hüpfen.
Mit ihren diesbezüglichen Fragen habe sie schon viele Kellner zur Verzweiflung gebracht.
Ihr beschwipster Ehemann sekkiert sie damit. Er zieht sie gackernd und flatternd vor den anderen Gästen auf. Und Stunden nach der Party kommt er zurück in Elisabeths Wohnung:
Soeben hat er seine Frau erwürgt ...
Wer kann sich solche Szenen nicht auf der Bühne vorstellen? Die Dialoge kommen in die Nähe Loriots, bremsen sich aber rechtzeitig ein.
Denn Yasmina Reza belässt es ja nicht bei Streitereien. Ihr großer Gedanke ist die Einsamkeit – egal, ob man nun ledig oder verheiratet ist.
In einem einzigen Satz kann sie für Heiterkeit und Trauer sorgen.
Schön, dass sie diesmal kein Puzzlespiel geschrieben hat, sondern eine durchgehende Erzählung.
Und wer behauptet, dass sie niemanden glücklich sein lässt? Yasmina Reza gibt jedem sehr wohl eine Chance, halbwegs ungeschoren davonzukommen. Das funktioniert so:
Man muss viel schlafen. Man muss alles verschlafen.
Yasmina Reza:
„Babylon“
Übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel.
Hanser Verlag.
219 Seiten.
22,70 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern