Kultur

Wut auf die Welt, keine Lust auf Swing

Es herrscht Neujahrskonzertstimmung mit Flip Flops, in denen tatsächlich einzelne Besucher Samstag zu Keith Jarrett in den ausverkauften Musikverein kommen. Im Goldenen Saal gibt der Pianist den dritten von insgesamt nur fünf Solo-Abenden in ganz Europa.

Wie immer heißt es: Fotografieren verboten! Husten verboten! Atmen noch erlaubt? Schließlich will der Improvisator Neues und Außergewöhnliches schaffen.
Dann der Eklat: Der 71-Jährige tritt auf mit Sonnenbrille, schlendert schnurstracks zum Mikro und sagt: „Die Zwei, die jetzt fotografiert haben, verlassen das Haus. Ich bin so lange hinter der Bühne.“ Er geht ab. Das Licht an. Verwirrung. Alle halten den Atem an.

"Fotografieren zerstört die Musik"

Nach einer halben Ewigkeit kehrt Jarrett zurück, lamentiert über die mangelnde Konzentrationsfähigkeit der Welt, erklärt vorwurfsvoll: „Fotografieren zerstört die Musik.“ Und setzt sich endlich an den Flügel, auf dass seine Inspiration zur Tat werde und sich geistige Schwingungen zu nichts als Musik kondensieren.

Auf eine Art expressive Schule der Geläufigkeit folgen ein langsames mollgetöntes, dann ein impressionistisches Erzählstück und Piano-Phantasien, feinsinnig, hymnisch klar, zart verspielt, aber ohne überflüssige Schnörkel. Dabei verliert er nie den Sinn für die formale Geschlossenheit. Wobei die vier Parts vor der Pause inspirierter wirken als die danach.

Aber werden Überraschungen nicht auch deshalb seltener, weil zwischen dem jugendlich-frischen, in den Melodien singenden Köln-Concert von 1975 sowie dem düsteren Album „Dark Intervals“ (1998) und der grenzgenialen Doppel-CD „Radiance“ (2005) vielleicht bereits alles gesagt ist?

Was der Mann aus Pennsylvania live wie Sakralmusik präsentiert, hat ohnedies schon lange nichts mehr mit Jazz zu tun und ist Schubert und Debussy allemal näher.

Manche Gottgläubige sagen gar: Nicht Jarrett spiele die Kreationen aus dem Nichts. Er sei bloß das Medium, das Instrument für eine metaphysische Macht. Nur steht Gott diesmal nicht der Sinn nach Swing. Als dritte Zugabe gibt’s wenigstens das herzerwärmende „Somewhere Over The Rainbow“. Und Jarretts Statement: „Was Angst doch möglich macht.“