Kultur

Die besten drei Jahre

Warum ich?“ Diese Frage hat sich Wolfgang Herrndorf nicht gestellt, als er im Jahr 2010 erfuhr, in seinem Kopf sitze ein unheilbarer Hirntumor. 45 war er damals.

Da hätte sich Herrndorf, als Gesunder, viel eher gefragt: „Warum denn ich nicht?“

„Willkommen in der biochemischen Lotterie“, hat er im Internet notiert.

Bis zu seinem Tod im August 2013 – er hat sich erschossen, an einem der letzten Tage, an denen er noch dazu in der Lage gewesen ist – schrieb der gebürtige Hamburger in seinem Blog mit dem Titel „Arbeit und Struktur“ über sein Sterben – komisch, zynisch, verzweifelt, panisch.

Der Hirntumor sei der Mercedes unter den Krankheiten, „mit Prostatakrebs oder einem Schnupfen hätte ich diesen Blog jedenfalls nicht begonnen.“

„Arbeit und Struktur“ ist kürzlich zum Buch geworden. Es ist Herrndorfs Vermächtnis; und sein dritter Bestseller hintereinander.

Den ersten, den Jugendroman „Tschick“, konnte er vielleicht nur wegen der Krankheit fertigschreiben. Weil er ein langsamer Autor (immer am Existenzminimum) war und ständig jeden Satz änderte. Aber nach der Diagnose musste und sollte es schnell gehen. „Tschick“ stand mehr als ein Jahr auf den Bestsellerlisten, auch im KURIER.

„Dass alles sinnlos ist, habe ich immer gewusst ...“ Er schrieb trotzdem in seiner Berliner Wohnung, auch noch den Wüsten-Thriller „Sand“ ( Preis der Leipziger Buchmesse 2012).

So entsetzlich das klingen mag: Ein großer Erzähler wurde auf diese Weise geboren.

Kleine Freuden

„Arbeit und Struktur“ ist schwer zu ertragen. Das Tagebuch führt zu drei Gehirnoperationen, zwei Bestrahlungs- und drei Chemotherapien. Es handelt von epileptischen Anfällen, vom Unvermögen, die Hausschuhe anzuziehen, von Orientierungsstörungen und Sprachverlust.

Und doch, so steht geschrieben, waren die letzten drei Jahre seine besten.

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„Arbeit und Struktur“ – der Titel drückt aus, was er dem Tumor entgegensetzt – ist sehr wohl zu ertragen; und ein Gewinn, weil man dem Autor ja irgendwann folgen muss.

Herrndorf erleichtert das Lesen, indem er logische sentimentale Anflüge immer rasch erstickt – zum Beispiel durch die Auflistung jener kleinen Freuden, die sein Tod bringt:

Nie wieder Steuererklärung. Nie wieder Zahnarzt. Und: „Ich“ – aber daran schluckt man gewaltig – „werde meine Eltern nicht zu Grabe tragen.“

Die Eintragungen werden gegen Ende lückenhafter, es ist anzunehmen, dass Freunde halfen. Fünf Wochen vor seinem Selbstmord wurde festgehalten:

„Es gibt uns nicht. Wir sind schon vergangen.“

KURIER-Wertung: