Kultur/Wiener Festwochen

Radikal und zärtlich: Kampf um Würde

Ein erwachsener Sohn pflegt seinen greisen inkontinenten Vater mit zärtlicher Hingabe und wachsender Verzweiflung. Die Überforderung von Vater und Sohn ist für das Publikum körperlich spürbar. Den Verfall des Vaters mit anzusehen, das Leiden und Mitleiden mitzuerleben, tut weh.

Drastisch und atemberaubend sind die Theaterbilder von geradezu elementarer Menschlichkeit vor einer riesigen Reproduktion eines Jesus-Porträts des Renaissance-Malers Antonello da Messina aus der Londoner National Gallery.

Hilflosigkeit

Sichtbar gemacht werden Probleme des Alterns, wie sie nicht nur die Alternden betreffen, die die Kontrolle über ihre Körper verlieren, sondern auch ihre Kinder, die sich um sie kümmern.

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Es ist letztlich ein trauriger, da hoffnungsloser Kampf mit der menschlichen Unzulänglichkeit, die einem den Atem stocken und die Seele brennen lässt.
„Das Tragische hat sich schon immer aus der abstoßenden Hässlichkeit des Lebens genährt“, sagtRomeo Castellucci.

Die Arbeit „Sul concetto di volto nel figlio di Dio“ („Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn“) des italienischen Regisseurs und seine Gruppe Socìetas Raffaello Sanzio ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit Jesus, dieser Ikone westlicher Kultur schlechthin, die für das Leiden, aber auch für die Barmherzigkeit und die Liebe steht.

Wo ist Gott?

Der „Erlöser“ hängt hier nicht am Kreuz, sondern ist im Vollbesitz seiner Kräfte. Sein eindringlicher, gütiger, auch beharrlicher Blick überwältigt. Jesus, dieser „Salvator mundi“, blickt dich sanftmütig an. Aber wohin schaust du selbst? Wie fühlst du dich im Anblick von Alter, Schwäche und der Abhängigkeit von Fürsorge?
Wohin geht unser Blick, wenn uns erbarmungslos vor Augen geführt wird, welche erbärmliche Kreatur der Mensch letztlich ist?
Und vor allem: Wo ist Gott? Weshalb sieht er zu und tut nichts? Weshalb erlöst er uns nicht, bevor es soweit kommen muss?

Auf der Theaterbühne folgt die Zerstörung des riesigen Ikonenbildes von Jesus Christus und die mögliche Antwort wird als leuchtender Text sichtbar: „You are my shepherd“ – mit einem im Schatten stehenden „not“ auch als „You are not my shepherd“ lesbar.
Castellucci zeigt“, schrieb die Süddeutsche Zeitung, „dass Theater im Idealfall mehr kann als jede andere Kunstform, als jede andere Vermittlungsform von Inhalt. Die Wucht der Darstellung legitimiert die Aussage.“

Info: 11. bis 13. 5. (19.30 Uhr), Burgtheater (in italienischer Sprache mit deutscher Übersetzung) www.raffaellosanzio.org

Theateravantgardist

Zur Person
Romeo Castellucci, Leiter der 1981 gegründeten Compagnie Societas Raffaello Sanzio, gilt als Theateravantgardist, der seine Wurzeln in der Antike sieht. Die Compagnie ist für radikales Gegenwartstheater („nuovo teatro“) bekannt.

Arbeiten
Castelluccis bild- und klanggewal- tige Bühnenästhetik kommt weit- gehend ohne Dialoge aus und wirkt suggestiv. Bei den Wiener Festwochen gastierte 2009 seine Inszenierung „Il Purgatorio“. Im März hatte sein „Hyperion“ in der Berliner Schaubühne Premiere.

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