Kultur/Wiener Festwochen

"Die Brüder Karamasow": Der Vatermord droht. Droht lange.

Wenn die Wiener Festwochen einen Bus-Shuttle von der ehemaligen Sargfabrik in Liesing zurück in die Stadt anbieten, ahnt man bereits, dass der Abend lang, sehr lang dauern wird.

Auch dass sich Frank Castorf, Intendant der Volksbühne Berlin, nicht neu erfunden hat, war klar. Er dramatisierte eben wieder einen Roman von Fjodor Dostojewskij, nun also – nach "Dämonen", nach "Schuld und Sühne", nach "Der Idiot" und "Der Spieler" – "Die Brüder Karamasow". Castorf geht es allerdings nicht darum, eine Geschichte mit den Mitteln des Theaters packend nachzuerzählen; er pickt sich lieber Konstellationen, Gespräche und Monologe heraus, er schafft eine Collage der russischen Befindlichkeiten – immer im Kontrast zur oder mit Anspielungen auf die gegenwärtige Situation. Die Frage war nur: Welche Teile des 1200 Seiten starken Alterswerks er verwenden würde.

Impressionen der Inszenierung

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Um 18 Uhr Beginn im "F23, Zusammenbau", wie das Industriegelände heute heißt. Bert Neumann, Castorfs altbewährter Bühnenbildner, hat in die riesige Halle eine grobe Landschaft aus Bretterverschlägen, Häusern oder Teilen davon gezimmert. Eine Gartenlaube gibt es – und natürlich, beinahe obligatorisch bei Neumann, ein Planschbecken.

Von draußen schimmert durch das halbrunde Fenster die haushohe Neonreklame für Coca-Cola – in kyrillischen Buchstaben. Eine schöne Metapher. Denn es geht, wie sich herausstellen wird, um den Kampf der Ideologien, um Kapitalismus und Kommunismus, um die Sehnsucht nach Amerika und die Sehnsucht nach Russland.

Start im Freien. Voyouristische Handkameras verfolgen das Geschehen, die bewegten Bilder werden im Saal auf eine Leinwand projiziert. Das ist typisch Castorf, aber so selten wie dieses Mal hat man das geschundene Ensemble noch nie leibhaftig vor sich spielen sehen.

Gleich in der ersten Szene stellt Castorf die zentralen Figuren vor, also Fjodor und seine Söhne, die Brüder Karamasow. Jeder von ihnen verkörpert ein anderes Prinzip: Alexander Scheer spielt den analytischen Iwan, Daniel Zillmann den vermittelnden Alexej, Marc Hosemann den ungestümen Dmitrij. Man erblickt auch Sophie Rois als Halbbruder Pawel.

Dmitrij wirft seinem Vater vor, ein "schamloser Heuchler und Lüstling" zu sein, der ihm das Erbe der Mutter vorenthalten habe. Er brauche das Geld für Gruschenka. Doch auch Fjodor, von Hendrik Arnst mit patriachalischer Mächtigkeit ausgestattet, will dieses raffinierte Quietsch-Püppchen (beeindruckend Kathrin Angerer). Der Vatermord droht.

Zillmann ist der Einzige, der sich zärtlich Zwischentöne erlaubt. Seine Sätze bleiben haften: Jeder wolle alles auskosten, die Menschheit werde in Einzelne zerfallen.

Die anderen verausgaben sich mit Herumrennen. Erst um 22 Uhr, nach der Pause, hat Sophie Rois ihren ersten, berührenden Monolog. Ihr Pawel wird es sein, der den Vater tötet. Doch bis dahin haben Lilith Stangenberg, Jeanne Balibar, Patrick Güldenberg, Margarita Breitkreiz und Frank Büttner noch viele Schreiattacken, hysterische Anfälle, manierierte Eskapaden zu absolvieren. Man mag nicht mehr zuhören, ist verärgert, dass Castorf wieder jedes Zeitgefühl verloren hat. Um Mitternacht setzt eine Abwanderungswelle ein, um 0.10 Uhr sorgt eine verzweifelte Rois für den letzten Höhepunkt. Um dreiviertel eins beklatschen sich Akteure wie Publikum gegenseitig fürs Durchhalten. Muss man, trotz einiger dichten Szenen, nicht unbedingt gesehen haben.

KURIER-Wertung: