Wiener Festwochen: Wimmelbild der Weltenflucht
Von Thomas Trenkler
Beinahe die gesamten Wiener Festwochen lang zeigt man im Museumsquartier in Dauerschleife eine 20-minütige, recht beeindruckende Videoinstallation von Ryoji Ikeda, die erstmals 2015 im ZKM Karlsruhe zu sehen war. Sie erinnert ein wenig an den Film „Koyaanisqatsi“ von Godfrey Reggio aus 1982 mit den Zeitrafferaufnahmen hektischen Lebens im Kontrast zu Landschaften in Zeitlupe, untermalt mit der suggestiven Minimal Musik von Philip Glass.
In „micro/macro“ allerdings rauschen beziehungsweise rattern zu mächtigen Synthesizer-Klängen vor allem Zahlenkolonnen und Grafiken vorbei: Die Ergebnisse der Quantenphysik werden auf zwei riesigen Projektionsflächen mit dem Universum in Verbindung gesetzt.
Noch mehr als die Bilderflut allerdings erstaunt die Wahl der Halle E als „Spielort“. Denn die große Tribüne wird nicht genutzt. Und die Besucher – kaum mehr als 100 pro Tag – verlaufen sich. In einer der Gösserhallen hingegen wurde eigens eine Tribüne errichtet: für die Performance „Crowd“ von Gisèle Vienne. In Peter Handkes wortlosem Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, 1992 uraufgeführt, bevölkern Paare und Passanten einen Platz: Sie begegnen einander, gehen aneinander vorbei, schließen sich zu Gruppen zusammen ...
Bei Vienne ist die Grundsituation ähnlich. Allerdings schickt die französisch-österreichische Choreografin ihr 15-köpfiges Ensemble in ein erdiges Brachland, drapiert mit Müll, um dort eine Techno-Party zu feiern. Schriftsteller Dennis Cooper hat Charaktere – vom Gothic-Girl bis zum Grunge-Typen – und Miniszenen entwickelt, Peter Rehberg die Playlist mit Klassikern des Detroit Techno aus den 90er-Jahren zusammengestellt. Erst allmählich erobern sich die Tanzenden, angeführt von einer jungen Frau in Hot Pants und Glitzer-Sneakern, den Raum. Man trinkt, legt den Rucksack ab, zieht die Jacke aus, reißt die Arme hoch, man verführt oder beginnt zu raufen.
Doch egal, was man tut: Als Kontrapunkt zu den dröhnenden Beats wird in diesem komplexen Wimmelbild jede Bewegung in größtmöglicher Zeitlupe ausgeführt. Später „friert“ Vienne Szenen ein und „zoomt“ auf einzelne Figuren. Oder sie lässt Bewegungen loopartig (wie in einem GIF) wiederholen.
Nach einer äußerst pulsierenden Phase sinken alle erschöpft zu Boden. Das lange Chill-out endet geradezu dramatisch: Die Figuren lösen sich in Rauch auf. Das alles ist sehr ästhetisch, sehr gefällig – und sehr fugitiv.
Mithin das Gegenteil der Multimedia-Performance, die zu Fronleichnam unmittelbar davor in einer anderen Gösserhalle präsentiert wurde: In „The Walking Forest“ greift die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy auf Motive in Shakespeares „Macbeth“ zurück, um Unterdrückung und Korruption anzuprangern. Sie sehe, sagte sie, überall Macbeths an die Macht kommen. Ihr Befund müsste dann gar nicht so pessimistisch ausfallen. Denn der schottische König, dem es nicht gelingt, das Blut von den Händen abzuwaschen, wird bekanntlich besiegt – von einem als Wald verkleidetem Heer.
Der Mensch ist schlecht
Jatahy hält aber ohnedies eher der saturierten Gesellschaft den Spiegel vor, die sich beim Betrachten der Videos über Flüchtlinge an der Bar eine Handvoll Ashanti-Nüsse in den Mund kippt. Wie sie das macht, ist ziemlich fies: mit versteckter Kamera hinter dem Spiegel. Und mit diversen Einzelaktionen, ausgeführt von Mitmachwilligen nach Anweisungen über einen Knopf im Ohr. Da wird ein Fisch ausgeweidet, blutige Geldscheine wechseln den Besitzer, das Aquarium – Wasser ist die zentrale Metapher! – färbt sich rot und so weiter. Nach einer ziemlich langen Exposition, in der unbemerkt das Bildmaterial gesammelt wird, zeigt Jatahy die Zusammenschau in Cinemascope-Format. Man sieht sich selbst. Ja, der Mensch ist schlecht. Wie platt!