Wiener Festwochen: Mutwillig statt wagemutig
Von Thomas Trenkler
Man kann die Leserschaft ja vieles fragen. Zum Beispiel: "Welche Musik haben Sie 1968 gehört?" Oder: "Welche Bücher lesen Sie gerade?" In der Regel generieren die Animateure des "Standard" damit Hunderte Postings.
Eine Debatte über die Wiener Festwochen anzuzünden hingegen misslang. Es gingen gerade einmal 15 Antworten ein. Obwohl man gekonnt schürte: Auch in der zweiten Saison von Tomas Zierhofer-Kin seien, so der "Standard", die kritischen Stimmen nicht verstummt. Zitiert wird ein User, der schon vor Wochen und mit respektabler Zustimmung der Leserschaft die "baldige Ablöse" gefordert hat.
Die bittere Erkenntnis: Die Festwochen sind egal. Egal geworden. Letztes Jahr konnte man sich noch darüber ärgern, dass der arrogante Revoluzzer das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Denn der Anspruch war nicht mehr, die besten, aufregendsten, aktuellsten Produktionen aus aller Welt in Wien zu zeigen, sondern die dekadenten Bildungsbürger eines Besseren zu belehren.
Doch nun? Kaum jemand, der sich echauffiert. Dass die Festwochen belanglos geworden sind: Das ist die wahre Niederlage von Zierhofer-Kin. Sie wiegt weit schwerer als jede Kritik über maue Gastspiele in Serie. Denn die Marke, über Jahrzehnte aufgebaut, wurde beschädigt.
Da selbst die Kulturpolitik letzten Sommer unzufrieden war, musste der Chef Besserung geloben. Er tauschte Dramaturgen aus und gestand Fehler ein. Doch das Ergebnis befriedigte viele wieder nicht. Denn Zierhofer-Kin agiert nach wie vor eher mutwillig (statt wagemutig).
Sein Team redet zwar nicht mehr ganz so geschwollen; schmückende Beiwörter und Wendungen wie „animistische Energien“, „viszeraler Charakter“, „sensorischer Entzug“ und „intellektuelle Textplosion“ nerven ungemein. Und der inflationäre Gebrauch des Wortes „immersiv“ rief nur mehr mitleidiges Lächeln hervor.
„Ikonische Arbeit“
Zudem wurden viele Veranstaltungen derart übertrieben lobend – etwa als „ikonische Arbeit“ – angepriesen, dass die Erwartungshaltung nur enttäuscht werden konnte. Nein, Ersan Mondtag eröffnete nicht „provozierende Perspektiven“ – und Christiane Jatahy brachte alles andere als „subtil und mit emotionaler Intensität“ die Grenzen zwischen Genres zu Fall.
Oft fehlte es auch an Ehrlichkeit. Bei „Kamp“ von Hotel Modern gestand man zwar ein, dass die Arbeit 2005 entstanden ist. Die Festwochen hätten aber durchaus erwähnen können, dass die Produktion 2007 beim Young Directors Award der Salzburger Festspiele zu sehen war – übrigens unter dem weit passenderen Titel „Lager“.
Zumeist verzichteten die Festwochen völlig auf Angaben zum Entstehungsjahr. Warum? Früher erlebten viele Inszenierungen ihre Premiere in Wien. Das war zwar kostspielig, sorgte aber für internationale Berichterstattung und ein enormes Renommee. Zierhofer-Kin hingegen kaufte, obwohl die Subvention (10,6 Millionen Euro im Jahr 2016) so gut wie nicht gekürzt wurde, in der Regel bloß ältere, tourneetaugliche Produktionen ein – und versah sie mit dem erbärmlichen Gütesiegel „Wien Debut“. Und wenn er nach hippen Namen gierte, achtete er nicht auf die Qualität. Susanne Kennedy oder Ersan Mondtag haben schon bessere Inszenierungen abgeliefert als die gezeigten Arbeiten „Die Selbstmordschwestern“ beziehungsweise „Die Orestie“.
Von den Münchner Kammerspielen kaufte Zierhofer-Kin auch „Tiefer Schweb“ von Christoph Marthaler ein. Die Premiere war am 24. Juni 2017. Wäre es nicht reizvoller gewesen, Marthalers jüngste Inszenierung zu präsentieren? „Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch“ hatte am 18. März 2018 in Hamburg Premiere.
Natürlich wollte der Intendant in erster Linie Statements abgeben. Daher zeigte er im Museumsquartier die reizüberflutenden Videoarbeiten „Feed.X“ (ursprünglich aus 2005) von Kurt Hentschläger und „micro/macro“ von Ryoji Ikeda (aus 2015). Das war spannend.
Doch mit „micro/macro“ wurde für vier Wochen (!) die große Halle E blockiert. Das bedeutet neben enormen Kosten und kaum Einnahmen, dass Zierhofer-Kin auf andere Spielorte ausweichen musste. Er mag es reizvoll gefunden haben, das „Proletariat“ das barocke Theater an der Wien stürmen zu lassen. Die nette Fußball-Doku-Revue „Stadium“ braucht allerdings keine Hi-tech-Bühnentechnik. Ähnliches galt für „The Song of Roland: The Arabic Version“.
Sehr wohl ins Theater an der Wien hätte hingegen die „Winterreise“ in der modern aufgepimpten Orchesterfassung von Hans Zender gepasst. Zierhofer-Kin aber zeigte sie in den Gösserhallen. Man fragte sich, warum auch er eine szenische Umsetzung ansetzt – bloß vier Jahre nach seinem Vorgänger Markus Hinterhäuser in einer exemplarischen Version von William Kentridge, die von Wien aus die Welt eroberte. Dieses Match war nicht zu gewinnen, auch wenn Kornél Mundruczó den Liederzyklus mit Video-Bildern der Flüchtlingswelle 2015 illustrierte.
Doch man muss eingestehen: Die Gösserhallen funktionieren. Nicht nur bei den Deep-Friday-Clubbings. Am vergangenen Wochenende zeigte das Kollektiv LFKs unter dem Titel „L’habitude“ einen intensiven Heavy-Metal-Kunst-Parcours über Gewalt, Terror und Willkür in der Tradition der Roten Piloten zusammen mit Laibach. Und Markus Öhrn setzte in „Häusliche Gewalt Wien“ – ebenfalls eine Uraufführung – fünf Stunden lang zu romantischer, repetitiver Klaviermusik eine Frau den Attacken ihres Mannes aus. Der Pappmachee-Kopf nimmt immer größeren Schaden, duldsam überschminkt die Frau die Blessuren. Das hatte eine unglaubliche Intensität.
Auf diesem Niveau dürfte es ruhig weitergehen. Leider enden die Festwochen in einer Woche.