Wenn er komponiert, heult seine traurige Seele
Von Peter Pisa
Als der erste Schrecken verflogen war, konnte der Vater diesem seltsamen Gruß seines Sohnes doch noch etwas abgewinnen:
"Mach’s gut und stirb bitte ordentlich!"
Kenzaburo Ōe hat sich fest vorgenommen, es zu versuchen. Aber schon jetzt? 80 wird der japanische Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1994 demnächst.
Und was wird dann aus dem Sohn, dem 51-jährigen Hikari? Wer wird ihn nachts an der Hand nehmen und auf die Toilette führen?
Kenzaburo Ōe hat oft über Hikari geschrieben. Wahrscheinlich hätte er ohne Hikari, der mit einer Missbildung des Gehirns zur Welt kam, niemals diese große Traurigkeit gehabt und deshalb Bücher geschrieben.
Aber (zum Beispiel) sein bekanntestes Werk "Eine persönliche Erfahrung" ist trotzdem "nur" ein Roman: Ein junger Vater muss sich angesichts des behinderten Babys für oder gegen die möglicherweise lebensrettende Gehirnoperation entscheiden.
Still voran
Im sogenannten richtigen Leben dauerte das nicht 250 Seiten, sondern der damals 28-Jährige brauchte bloß Sekunden.
Dann fiel wahrscheinlich zum ersten Mal der Satz, der zu einem Leitmotiv wurde: "Los, da müssen wir durch!"
Ein Leitmotiv für Kenzaburo und für seine malende Ehefrau (seit 1960) Yukari und auch für den Sohn, wenn er seine epileptischen Anfälle hat.
Hikari Ōe redet selten, er träumt nie, aber versinkt in klassische Musik, seit er als Kind Vögel singen hörte. Den ganzen Tag hört er schweigend Platten und Radio.
Und manchmal komponiert er für Flöte und Klavier (auf der YouTube-Internetseite sind Beispiele). In den Melodien erkennt Hikari, und seine Seele heult.
Bei allem Chaos bedeutet Hikari auch Glück: "So kam das Glück, und Licht schien auf mein Haus" (der englische Dichter Robert Herrick, 1674).
"Licht scheint auf mein Haus" ist kein Roman. Ōe schildert, wie die Familie das Leben meistert. Das heißt: Mitte der 1990er hat er davon erzählt. Schon damals war man müde, aber man schritt still voran.
Jetzt erst hat man sich zur deutschen Übersetzung entschlossen.
Die einzelnen Phasen werden durchgegangen, wenn das Kind nicht gesund ist: Schock, Verleugnung, Verwirrung, Akzeptanz.
Windstöße
In diesem Buch wird nicht geblendet, auch nicht mit Stil, hier verrät jemand, was er fühlt. Und Wut auf den behinderten Sohn wird dabei nicht ausgeklammert.
Kenzaburo Ōe hofft auf den Unterschied zwischen Ungeboren und Gestorben. Die Verstorbenen sollten doch zumindest wie ein Windstoß erhalten bleiben. Das gibt Ōe Kraft, und da erhebt sich die Frage, an den Sohn gerichtet – und Gedicht:
"Wenn wir uns irgendwann wiedertreffen, ob du mich dann erkennst, und ich dich?"
KURIER-Wertung: