Kultur

Wahnsinniger Tanz

Erstens: Boxen ist kein Sport, sondern Kunst.
a) Eine Kunst wie das Schreiben eines Dramas.
b) Nah der Musik.
c) Nah dem Tanzen. (Der Erzählkunst doch nicht ganz so nah.)

Zweitens: ... und außerdem ist Boxen wie das Leben; Stöße, verfehlte Schläge, Clinch, eine Runde nach der anderen, nur kurze Verschnaufpausen dazwischen.
Der reine Wahnsinn also.

Drittens: Selbstverständlich ist Boxen primitiv. Auch Geburt, Tod, Sexualität sind primitiv.
Glaubt denn noch irgendwer, der Mensch sei ein Geisteswesen? Körper ist er, vor allem Körper.
Das sind Gedanken von Joyce Carol Oates „Über Boxen“. Ihr Vater hatte das Interesse in den 1950er-Jahren geweckt.
Frau Oates hat wahrscheinlich nicht weniger Kämpfe gesehen als TV-Kommentator Sigi Bergmann (der übrigens heuer im Jänner 75 wurde).

Erschütterung

Die zerbrechlich wirkende Amerikanerin hat im Juni ihren 75er.
Ihre mosaikartigen Essays zum Thema, zwischen 1980 und 2005 geschrieben, kommen gerade rechtzeitig in der deutschen Übersetzung: Eine neue Studie besagt, dass selbst Kopfbälle beim Kicken in Summe gefährliche Gehirnerschütterungen verursachen.

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Vom Verdauen der Boxschläge reden wir jetzt lieber nicht.
Joyce Carol Oates – immer für den Nobelpreis im Gespräch – vermag in einzelnen Sätzen ganze Kapitel zu erzählen: zuletzt etwa in „Du fehlst“ über Mutters Tod; und in „Meine Zeit der Trauer“ über den Tod des Ehemannes.
In „Über Boxen“ schafft sie das nicht.
Teils widersprüchlich symbolisiert sie und bleibt trotzdem oft überraschend bildarm. Dabei mag sie Symbole gar nicht, wie man an der von ihr zitierten katholischen Schriftstellerin Flannery O’Connor merkt: „Wenn die Hostie nur Symbol ist, dann zum Teufel mit ihr.“

Um Muhammad Ali, Marvin Hagler, und Mike Tyson („Ich will meinen Gegnern das Nasenbein ins Hirn treiben“) kümmert sie sich besonders.
Auch anekdotisch.

Liebling

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Nett ist es nicht, ausgerechnet an dieser Stelle – wie schon 2009, als das Buch erstmals übersetzt wurde – A.J. Lieblings „Die artige Kunst“ aus dem Berenberg Verlag zu loben.
Der Amerikaner (1904– 1963) war Starreporter des New Yorker. Auch ein Philosoph am Ring, aber mit ihm war man „mittendrin“. Er überhöhte den Sport nicht, sondern erkannte ihn als eine (durchaus intelligente) Nebensache aus halbseidenem Milieu, die halt zum gesellschaftlichen Ereignis wurde, über das zu berichten ist. Über Rocky Marciano notierte A.J. Liebling: „Mehr denn je ähnelte er einer Dänischen Dogge, die das Wort ,Knochen‘ gehört hat.“
An solchen Sätzen hat man zwar weniger zu knabbern. Aber sie haben die feine Wirkung eines Aufwärtshakens.

KURIER-Wertung: *** von *****

Info: JoyceCarol Oates: „Über Boxen“. Übersetzt von Andrea Ott und Ursula Locke-Gross. Manesse Verlag. 320 Seiten. 20,60 Euro.