Kultur

Vor der Kamera ist jeder vulgär

Wenn es das Punschkrapferl nicht schon gäbe, man müsste es extra für Martin Parr erfinden: Der dicke Zuckerguss, die grelle Farbe, überhaupt das Vulgäre und Unmäßige, das diese Zu-Süß-Speise auszeichnet, ist ganz nach seinem Geschmack. Dabei ist Parr kein Konditor, sondern ein Fotograf, ein berühmter noch dazu.

In einer Fotoserie, die eigens für seine aktuelle Werkschau im KunstHausWien entstand (bis 2. November), hat sich das Mitglied der renommierten Fotoagentur Magnum nun mit Wien auseinandergesetzt. Parr war in der Produktionsstätte der Aida-Kette, bei Schnitzelwirten, beim Zuckerbäckerball. Er fotografierte alles in seinem typischen Stil – gekennzeichnet durch extreme, gern auch indiskrete Großaufnahmen, schräge Details, hartes Blitzlicht und klischeehafte Bildmotive. Wie anderswo in der Ausstellung zu sehen ist, kam dasselbe Rezept u.a. bereits in Mexiko zum Einsatz. So etwas wie Punschkrapferln gibt es dort auch, nur haben sie die Form knallgrün glasierter Teigkringel.

Groteske Traditionen

Dass Parrs groteske Fotografie keineswegs eine Neuerfindung ist, lässt sich parallel zur Kunsthaus-Schau in der Albertina sehen: Unter dem Titel „Land & Leute“ hat Kurator Walter Moser dort eine fotohistorische Ausstellung aus Beständen des Museums arrangiert (bis 30.10.2016).

Die Vorwürfe an jene, die mit der Kamera ungeschönte Bilder des Alltagslebens einfingen, ähnelten einander stets: Voyeurismus, Sozialpornografie, mangelnde Empathie. Als „freudlosen Mann, der das Land, das ihn aufnahm, hasst“ bezeichnete ein Kritiker etwa den Exil-Schweizer Robert Frank, der 1958 Bilder seiner fotografischen Reise durch die USA publizierte: Der Band „The Americans“, in der Albertina mit exemplarischen Einzelfotos vertreten, ist heute ein Klassiker.
Martin Parr kennt die Vorwürfe der Kritiker alle, er tut sie meist mit Achselzucken ab: „Wenn man den Krieg fotografiert, ist es nicht kontroversiell – wenn man einen Supermarkt fotografiert, ist es das schon“, sagt er. „Ich habe das nie verstanden.“

Das Argument hinkt ein wenig – der Vorwurf, Fotografen würden ihre Motive bloßstellen, traf immer wieder auch die Kriegsfotografie. Dennoch es ist etwas anderes, wenn einer wie Parr seine Linse auf das „Eigene“ richtet: Die Frage, ob man als Betrachter wie durch ein Fenster auf das „Andere“ oder doch eher in einen Spiegel schaut, ist nicht mehr so klar zu beantworten. Die Schrebergartenbesitzer, die Ballgäste mit Sacherwürstl oder die Badegäste im Gänsehäufel, die Parr bei seinen Wien-Streifzügen ablichtete, sind tatsächlich „Alltag“, jeder könnte das Motiv sein.

„Realismus“ ist relativ

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Mit dem Begriff des Realismus sollte man trotzdem vorsichtig hantieren, denn eine Fotografie „ästhetisiert“ immer. Die Albertina-Schau bietet auch hierfür schönes Anschauungsmaterial: das Bild einer tristen Autoraststation von Joel Sternfeld aus den 1970er-Jahren etwa ist großes fotografisches Kino. Auch die Bilder, die der Grazer Fotograf Manfred Willmann 1981–1992 für die Serie „Das Land“ anfertigte, bestechen durch ihre Komposition und Ausführung: Zugleich zeigen sie wenig erhabene Motive wie Sauschädel oder rauchende Wirtshaus-Gäste mit Hand am Viertelglas.

Auch Martin Parrs Bilder sind alles andere als zufällige „Abschüsse“: Seine Bilder sind durchaus komponiert, die Unschärfen und Glanzlichter, die ein anderer Fotograf vermeiden würde, dienen nicht selten dazu, Details zu betonen und etwa die Mayonnaise auf gefüllten Eiern in der Wien-Serie noch fetter wirken zu lassen.

Dass Parr mit seinen Bildern die gewohnte Ästhetik der Produkt- und Werbefotografie, die er „Propaganda“ nennt, aushebeln will, wirkt nachvollziehbar.

Es bleibt das Unbehagen, dass fotografischer Humor generell meist auf Kosten anderer geht – die Würde der Abgebildeten ist von geringerem Interesse. Martin Parr kontert, dass niemand vor seinem Blick sicher ist: Superreiche wirken bei ihm gleich lächerlich wie Ball-Debütanten und Badende mit Sonnenbrand. Dass der Fotograf ohne ironischen Zugang Punschkrapferl isst, ist trotzdem schwer vorstellbar.

Info

Die Anzenberger Gallery (ehem. Ankerbrotfabrik , 1100 Wien, Absberggasse 27) zeigt bis 31.8. zusätzlich frühe Schwarzweiß-Fotografien von Martin Parr. Parrs Wien-Bilder sind im Buch „Cakes & Balls“ erschienen (Anzenberger Editions, 25 €, signierte Edition 149 €). Am 11. und 12. Juni wird es beim „Vienna Photobook Festival“ in der Ankerbrotfabrik angeboten.