Kultur

Der Wahnsinn spielt sich vor dem Irrenhaus ab

Ärgerlich ist das: wenn man weiß, was für ein – (ZENSURIERT) – gelesen wird ... und wenn man ahnt, wie vielen Lesern Ugo Riccarelli gefallen würde. Seit der Italiener zwei Familien durch 100 Jahre Schmerz begleitete („Der vollkommene Schmerz“, 2006 bei Zsolnay), knien Kritiker vor ihm. Der Roman hat seinen Platz neben Marquez’ „100 Jahre Einsamkeit“.

Aber machen wir uns nichts vor:

Riccarelli?

Kennt man nicht.

Die nächste Gelegenheit, das zu ändern, heißt „Die Residenz des Doktor Rattazzi“ .

Vögel

Ein Irrenhaus in der Toskana, mitten im Zweiten Weltkrieg. Die Bewohner werden verwahrt, nicht behandelt. Elektroschocks für Schizophrene kommen in Mode.

Dabei sind sie bestimmt nicht unvernünftiger als die vielen bewaffneten Wahnsinnigen da draußen.

Fosco etwa: Sieht er Vögel am Himmel, beginnt er mit den Armen wie mit Flügel zu schlagen, läuft durch den Garten, dreht sich um sich selbst. Tut das irgendjemandem weh? Seine Vernunft ist eine andere.

Es wird nur gefährlich, wenn es gar keine Vögel sind, sondern Flugzeuge, die Bomben abwerfen.

Wenn sich Fosco dann wieder abkapselt, könnten ihn Rosenblätter aus seiner Finsternis holen; das Reiben zwischen den Fingern, der Duft, die Erinnerung an Schönes ... So bringen der junge Aufseher Beniamino und der neue Arzt Rattazzi frischen Wind ins Haus.

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20 Jahre später hat der italienische Psychiater Franco Basaglia dann tatsächlich für einen menschlicheren Umgang gesorgt.

Ein Teil der Kranken wird wegen der Bomben von Beniamino und Rattazzi in ein einsames Landhaus im Appenin gebracht. Ohne Regeln und ohne Mauern schleppt man auf den Wiesen die Gespenster viel besser mit sich herum.

Ein unbehelligtes Leben darf auch hier nicht gelingen. Die Deutschen kommen. Suchen Juden. Suchen Widerstandskämpfer. Töten.

Der 58-jährige studierte Philosoph Ugo Riccarelli erzählt mit herrlicher Leichtigkeit von kleinen Leuten und großen Dingen. Man merkt gar nicht sofort, dass hier Geschichte mit ihrer ganzen Macht auf einen niederfällt; und Verzweiflung und Wut und Liebe.

Sonst müsste man schreien beim Lesen. So aber überwiegt das Gefühl, eine Melodie im Ohr zu haben, die immer bleiben wird.

KURIER-Wertung: ***** von *****