Tausche grünen Tee gegen Asyl
Von Peter Pisa
Ihm muss sehr fad sein.
Für eine Erzählung, in der Blau schlicht und einfach Blau ist und Grau nur Grau, setzt sich der Brite David Mitchell nicht an seinen Schreibtisch.
Bei ihm gibt es das Holzkohlegrau und das achtzigjährige Grau letzter Haare und das transparente Grau von Zikadenflügeln ...
Blau ist zumindest Kuliblau (wie der Ärmelkanal) oder wie Billardkreide (wie der Himmel darüber) oder Blau wie ein hoher Ton.
Allerdings genügt ihm das auch noch nicht.
Für Kindsköpfe
Mitchell muss einen historischen Roman schreiben, den Menschen, die historische Romane kaum ertragen können, mit größtem Vergnügen lesen.
Eine Liebesgeschichte, die man herzlich umarmt, obwohl man überhaupt keine Lust auf eine Liebesgeschichte hat.
(Noch dazu mit der Tochter eines verarmten Samurai, die als Hebamme arbeitet!)
So war das im vorangegangenen Wälzer "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet", und Mitchells Weltbestseller "Wolkenatlas" (2006), mit Tom Hanks verfilmt, war ein Tagebuchromanzenbrief- romansciencefictionthriller.
Wie man so sagt.
Daran schließt das aktuelle Buch an:
Wer will Mystery haben? Wer braucht Fantasy, um die Welt besser auszuhalten? Oder Harry Potter für ältere Kindsköpfe?
"Die Knochenuhren" sind alles und, davon abgesehen, sind sie etwas anderes, nämlich realistisch.
Erdbeeren werden gepflückt, ein Schiffskapitän sucht einen ruhigen Platz, um seinen Nasenrammel loszuwerden ...
Sehr realistisch also.
Sechs Teile gibt es, beginnend im Jahr 1984. Etwa ab Seite 400 zieht der Roman in die Zukunft, bis ins Jahr 2043.
Die Erzähler wechseln, im Mittelpunkt bleibt immer Holly Sykes, die heiratet, eine Tochter bekommt, Blasenkrebs hat und Hühner im Garten ... ein ganz normales Leben.
Fast ein ganz normales Leben.
Sie ist 15, als wir sie kennenlernen, und reißt von daheim aus. Der Grund ist erster Liebeskummer. Holly marschiert an der Themse entlang, eine Anglerin gibt ihr grünen Tee zu trinken und bittet als Gegenleistung um Asyl.
Wie meinen?
Asyl im Kopf, und zwar ganz hinten, damit die Seelenräuber sie nicht finden.
Holly sagt zu der alten Dame, die wohl spinnt: "Na klar, jaja."
Ein schwerer Fehler!
Dekantieren
"Fantastische Klumpen" drängen in ihre Lebensgeschichte, anfangs geht Mitchell sparsam mit derartigen Elementen um ... ... bis es offen zum Krieg der braven Horologen gegen die Anachoreten kommt.
Man sollte es nicht für möglich halten: Die Kapelle der Dämmerung muss zerstört werden, und zwar psychosoterisch. Dann kann niemand mehr Seelen dekantieren.
Alles klar?
Bei David Mitchell merkt man erstaunlicherweise nicht so überdeutlich wie manchmal bei Haruki Murakami, dass er trickst.
Dafür hat Mitchell seine Figuren nicht besonders lieb. Er gebraucht sie nur, um seinen Roman wie eine Kathedrale groß und mächtig hinzustellen. Man wünscht sich, irgendetwas möge wackeln bzw. ein paar kleine Löcher haben. Keine Chance.
Knochenuhren, das sind übrigens wir Menschen. Die fehlerhaften von uns halt.
David Mitchell:
„Die Knochenuhren“
Übersetzt von Volker Oldenburg.
Rowohlt Verlag.
818 Seiten.
25,70 Euro.