Kultur

T.C. Boyle: "Ich bin Schreiber. Ich bin süchtig."

Die Stadt Wien stellt für die Aktion "Eine Stadt. Ein Buch." seit Dienstag 100.000 Gratisbücher des Romans "América" zur Verfügung. Der Kultautor T.C. Boyle im KURIER-Interview.

KURIER: Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram und Co. dominieren die Beziehungen zwischen den Menschen. Sie sagen, das führe zu Isolation. Und die Bar sei da die letzte Bastion. Warum?

T.C. Boyle: Ich arbeite gerade an einem neuen Projekt. Es geht dabei um eine virtuelle Bar, vor allem für Männer. Es geht um die erstrebenswerte Errungenschaft, die Wohnung nie wieder verlassen zu müssen. Es wird alles virtuell zugestellt, sogar die Bar-Atmosphäre, die Barkeeper, die Drinks und die schönen Frauen, die einen abblitzen lassen. Was braucht es sonst noch als einen Martini?

Das klingt ironisch …
Was ich damit sagen will, ich bin in der glücklichen Lage in einem kleinen Dorf zu leben. Ich beschreite mein Leben zu Fuß und ich nehme meine Umgebung wahr. Und genau das ist eigentlich nicht mehr „normal“. Sogar für die meisten Stadtbewohner hinterwäldlerisch. Die meisten Menschen verbarrikadieren sich hinter einer Mauer oder einem Zaun und lassen sich alles ins traute Heim liefern. Ihre Elektronik, ihre Gartenmöbel, die Kleidung und auch das Essen. Und genau das meine ich mit der Bar als letzter Bastion, es ist ein Ort der Begegnung. Auch heute noch. Heute klingt das altmodisch wenn ich ihnen sage: „Ich habe Frau Boyle in einer Bar kennen gelernt.“ Laut ausgesprochen klingt das beinahe primitiv.

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In welcher Bar haben Sie Ihre Frau kennengelernt?
In Potsdam, New York. Zu der Zeit waren wir beide Studenten. Sie saß dort mit ihrer Freundin und die überzeugte sie davon, dass ich ein cooler Typ bin und liebenswert.

Gehen Sie immer noch gerne in eine Bar?
Das mache ich schon fast mein ganzes Leben. Schreiben und in die Bar gehen. Und es gibt einige, die ich oft frequentiere. Das „Café del Sol“ in Santa Barbara ist toll, dort sitzt man in der Sonne und ist umgeben von der Natur. Und sie erlauben Hunde, was toll ist, weil ich meinen mitbringen kann.

Sie behaupten „Literatur sei Entertainment“ und werden von Kollegen dafür kritisiert. Es gab Information und es gab Entertainment. Plötzlich propagierte man Infotainment. Eine verrückte Entwicklung ...
Total. Technologie ist toll, solange man weiß, wo der Off-Knopf ist! 24 Stunden Information ist Mist. Müssen wir jede Sekunde über jede Krise Bescheid wissen? Ich kann mich nur wundern. Ich möchte lieber in den Wäldern spazieren gehen und meine Zeit auf Erden genießen. Es ist eine Sucht, ich denke es verschlechtert die Lebensqualität.

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Wollten Sie nicht ursprünglich Musiker werden? Sie haben damals die Aufnahmeprüfung nicht bestanden?
Richtig. Ich habe gern Saxofon gespielt und viel Jazz gehört. Und dann kam der Rock ’n’ Roll und ich wurde Leadsänger bei der Band The Ventilators. Ein tolle Zeit. Aber das habe ich endgültig aufgegeben. Es ist entweder oder. Nennen Sie es Neurose: Ich kann nur eine Sache richtig gut machen, es erfordert meine ganze Aufmerksamkeit und Konzentration. Es gibt Künstler die singen, malen und schauspielen. Ich bin anders. Ich stecke alles in meine Werke. Ich bin ein Schreiber. Ich bin süchtig.

Sie tragen ein Statement-Shirt mit arabischer Aufschrift. Was steht darauf?
Ich habe keine Ahnung. Es gefällt mir einfach. (Anmerkung der Redaktion: übersetzt heißt es: „General-Streik“)

Haben Sie Interesse für Mode?
Ich mache mir nicht viele Gedanken darüber, aber ich habe einen Stil. T-Shirts, dunkle Anzüge und rote Sneakers. Aber Shoppen kommt nicht in Frage.

Und wenn Ihre Frau mit Ihnen shoppen gehen möchte?
Jetzt reden wir über Liebe. Das ist etwas anderes. Wir waren gerade erst eine Woche zusammen, da waren diese Worte: Lass uns shoppen gehen. Ich hörte mich sagen: „Tolle Idee, machen wir das.“ Nach diesem einmaligen Erlebnis sagte ich ihr: „Selbst, wenn wir die nächsten Tausend Jahre miteinander verbringen werden, ich werde niemals wieder shoppen gehen.“ Und dabei ist es bis heute geblieben.

Ist Frau Boyle die stärkere Frau hinter einem starken Mann?Sie würde das sicher bejahen. Wir haben beide unsere Rolle. Ich bin ein glücklicher Mann, weil ich in der Lage war, zu erkennen, was ich gerne mache und dadurch Bücher publizieren kann. Ich habe nie daran geglaubt, damit Geld verdienen zu können. Geld war nie der Antrieb. Doch dann passierte ein einschneidendes Erlebnis. Frau Boyle rief mir zu: „Besorge uns einen Wagen und zwar schnell.“ Ich fragte sie verwundert nach dem Warum. Sie erzählte mir, sie sei schwanger. Also brauchten wir ein Haus und gründeten eine Familie. Das verdanke ich meinen Büchern und meinen Lesern. Ich bin unabhängig, das ist mein Luxus. Ich hatte Glück.

Wir sitzen im traditionellen Hotel Imperial. Was bedeutet Ihnen dieser Ort und Wien?
Es ist immer toll, wenn man zehn Minuten bekommt, um sich eine Stadt anzusehen (lacht). Ich bin Sonntagabend gelandet und leide noch unter Jetlag. Vergangenes Jahr war ich mit meinem Sohn hier, wir waren in den Museen. Es war spannend. Ich interessiere mich für die Geschichte meiner Umgebung. Aber mir geht es dabei nicht um die Herrscher der jeweiligen Zeit oder Schloss Schönbrunn. Sondern um die einfachen Leute, die in vergangenen Zeiten lebten. Mein Roman „San Miguel“ (Anmerkung: das Buch erschien am 26. August) ist ein gutes Beispiel. Ich fand ein altes Tagebuch und begann meine Recherche. Wie lebte die Bevölkerung etwa 1798? Was hat sie gegessen, wie war ihre Weltanschauung? Das fasziniert mich. Nicht der Schwachsinn, der in jedem Schulbuch steht.

Sie waren auf einer öffentlichen Schule und kein begnadeter Schüler. Heute sind Sie Bestseller-Autor, verschenken Bücher bei der „Eine Stadt, ein Buch“-Aktion. Was halten Sie von privaten Schulen?
Ich hatte tolle Lehrer und gute Mentoren. Heute lehre ich an Universitäten „Kreatives Schreiben“ und gebe mein Wissen an junge Talente weiter. Es geht um Inspiration. Ich war nie auf einer privaten Schule. Meine Kinder auch nicht. Ich habe es zu etwas gebracht. Meine Kinder haben es zu etwas gebracht.

Sie würden die Einkommenssteuer abschaffen, Drogen sowie Alkohol frei zugänglich machen und besteuern. Ist das eine gute Idee?
Wenn Amerika oder Europa Drogen legalisieren würden, würde das der Gewalt, Korruption und Mafia ein Ende setzen. Keine Gangs mehr. Kein illegales Geschäft. Die Regierung sollte nicht die Erziehung der Eltern übernehmen.

Ende September sind in Österreich Nationalratswahlen. Wenn Sie österreichischer Staatsbürger wären, wen würden Sie wählen? Und warum?
Die Grünen. Wir zerstören den Planeten, den wir zum Leben brauchen. Der Sauerstoff, den wir atmen, verdanken wir den Bäumen und die roden und zerstören wir. Jeder lebt, als hätte er unendliche Ressourcen zur Verfügung. Das ist ein Trugschluss, ein großes Problem des Kapitalismus. Wir haben eine Verpflichtung. KURIER.at/menschen/im-gespraechEine längere Version des Interviews finden Sie online

T.C. Boyle (64) ist ein US-amerikanischer Bestseller-Autor. Mit Anfang 30 schaffte er es mit „Wassermusik“ (1982) erstmals auf die Bestseller-Liste. Mit dem Roman „América“ gelang ihm 1995 der internationale Durchbruch. Kritisch beäugt er die Entwicklung der Menschheit und aktuelle Probleme. Von Integration bis hin zu Umweltthemen.

Eine Stadt. Ein Buch. Mittlerweile ist Boyles 25. Buch erschienen, sein aktuelles Werk „San Miguel“ ist seit Ende August erhältlich. Die Stadt Wien stellt für die Aktion „Eine Stadt. Ein Buch.“ 100.000 Gratisbücher des Romans „América“ zur Verfügung. Am Mittwoch ist er bei „Press &Books“ am Flughafen Wien. Am Abend findet das Literaturfest im Rathaus statt. Am 12. 9. ist er beim Bühnengespräch am Wien Energie Kultur-Point Spittelau.