Kultur

Stoffmuster der Erinnerung

Es lohnt sich, einige Zeit mit den Fotos zu verbringen, die in einer langen Reihe in der Ausstellungshalle der Generali Foundation in Wien hängen. Sie zeigen eine Straße im jüdischen Viertel der polnischen Stadt Lublin, die der Fotograf Stefan Kielsznia in den 1930er-Jahren Haus für Haus abfotografierte – kurze Zeit, bevor das einst bedeutende Zentrum jüdischer Kultur von den Nazis zum Getto erklärt wurde.

Rückgrat aus Fotos

Im jüngeren Werk der deutschen Künstlerin Ulrike Grossarth, das von der scheidenden Direktorin der Generali Foundation, Sabine Folie, in umfassender Weise ausgebreitet wurde und bis 29. 6. zu sehen ist, stellt die Fotoserie so etwas wie ein Rückgrat dar: Immer wieder vertiefte sich die Künstlerin in Details der Zeitdokumente; sie übertrug die Beschriftungen und Waren in den Schaufenstern, die am Foto oft nur unscharf auszumachen sind, in Zeichnungen, und forschte den oft auffallend bunten Stoffmustern nach, die in den Läden oft in X-förmig übereinander gelagerten Bündeln zu sehen waren. Teilweise schneiderte sie selbst Kleider aus Stoffen, die den Lubliner Vorbildern nahe kamen.

Flaneurhaft

Einerseits scheint man Grossarth in der Schau auf einer flaneurhaften Erkundungstour an Orte zu folgen, die nicht mehr wirklich greifbar sind. Andererseits verfolgt die Künstlerin, die in Dresden eine Professur für "Übergreifendes künstlerisches Arbeiten" innehat, ihre Sujets mit einer Methodik, die sich aus teils obskuren Quellen speist: Referenzen zu jüdischen Geheimlehren, der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert und barocken Reit-Handbüchern haben wohl nur wenige Kunstbetrachter gleich parat.

Doch gerade in der Obskurität liegt auch ein Reiz: So wie das Leben auf der Lubliner Geschäftsstraße verloren scheint, ist es ein verschüttetes Wissen, das Grossarth mit ihren Zeichnungen und Übungen umkreist.

Denken und Tun

Die einst als Tänzerin aktive Künstlerin – ein Teil der Schau ist ihrem von Aktionen dominierten Frühwerk gewidmet – verbleibt dabei nicht im rein theoretischen Beschreiben, sondern verfolgt ihre Spuren mit Handlungen: Zeichnungen, Gewänder, Bilder, Bewegungen können das Verschüttete nicht restlos erklären, aber doch ein Stück weit ins Leben zurückholen. Das Werk ist dadurch sinnlicher, als es vordergründig scheint – und jedenfalls sehenswert.

INFO: "Wäre ich von Stoff, ich würde mich färben": Retrospektive Ulrike Grossarth. Bis 29. 6., Wiedner Hauptstraße 15, Wien. Di–So 11–18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Führung am 27. 3., 18 Uhr.
foundation.generali.at