Kultur

Jamala - "Totalitäre Regimes haben nie Gutes gebracht"

KURIER: Wie kommt es Ihrer Ansicht nach, dass derzeit international und auch in der Ukraine recht wenig über die Krim gesprochen wird?

Susana A. Dschamaladinowa: Ich denke, derzeit passiert so viel in der Welt. Syrien, der Terror in London und Paris. Da verschwindet so eine kleine Halbinsel wie die Krim aus den Nachrichten. Im internationalen Maßstab passieren da keine lauten Nachrichten. Aber dennoch: Menschen verschwinden, werden für nichts verhaftet, und all das hat keine Konsequenzen für die Täter. All das ohne Prozesse und Verfahren. Menschen verschwinden, weil sie für ihr Recht gekämpft haben, am 18. Mai auf die Straße zu gehen – das ist der Tag der Deportation der Krimtataren. Für ihr Recht, religiöse Feiertage zu zelebrieren. Was wir wollen, ist ein ruhiges Leben in unserer Heimat; gemeinsam unsere Feste feiern. Aber ein Treffen von mehr als fünf Menschen wird bereits als Versammlung angesehen, für die eine Genehmigung benötigt wird. In unseren Moscheen sind immer Beobachter des Staates anwesend. Das Recht auf die freie Ausübung der Religion wird gebrochen.

Tut denn die ukrainische Regierung Ihrer Ansicht nach genug für die Tataren?

Die Ukraine unterstützt die Tataren. Es gibt eine Reihe an Organisationen und NGOs, KrimSOS und dergleichen. Und diese Organisationen sowie die Regierung und die NGOs sind geeint in ihrem Ziel. Die Tataren fühlen sich wie zu Hause. Ich habe mich hier nie als Gast gefühlt. Ich fühle mich als Teil dieses Landes und ich liebe es. Und ich wünsche mir Frieden für dieses Land. Das sind nicht nur Worte. Wir wurden zerteilt. Sie haben Teile des Donbass gestohlen, die Krim. So etwas darf nicht passieren. Es wird vielleicht viel Zeit vergehen, aber die Dinge werden sich wieder fügen.

Diverse Minderheiten haben Befürchtungen, was Rechtspopulismus in der Ukraine angeht.

Ja, es gibt diese weltweite Tendenz. Wir spüren das. Ich bin kein Politiker und ich kann Ihnen dazu keine profunde Antwort geben. Aber auf einer emotionalen Ebene fühle ich, dass das eine Tendenz in eine ferne Vergangenheit ist. Eine ferne Vergangenheit, in die ich mir nicht wünsche, dass die Menschheit geht. Totalitäre Regimes haben der Welt niemals Gutes gebracht.

Ihnen wurde die Position eines UNICEF-Botschafters angeboten. Es gibt auch viele Beispiele in der Ukraine, wo Musiker in die Politik gegangen sind, wie Ruslana. Können Sie sich das für sich vorstellen?Nein, ich bevorzuge es, Sängerin zu sein. Ich möchte bleiben, wo ich bin. Ich liebe es, Musik zu machen, Konzerte zu geben, diverse Projekte zu machen. Das ist alles sehr interessant, und ich kann mir nicht vorstellen, wo da Zeit bleiben soll für andere Aktivitäten außerhalb der Musik.

Ist es möglich, derzeit als Tatar nicht politisch zu sein?

Möglicherweise, wenn man in keiner Weise öffentliche Person ist. Dann geht das vielleicht. Aber all die ukrainischen Tataren, die Journalisten, Musiker, Künstler, Designer, Architekten – wir sind so wenige –, wir kennen einander alle beim Namen. Und alle, die ich kenne, haben eine klare Meinung. Sie sind nicht neutral.

Sind Sie optimistisch, dass Sie bald auf der Krim singen?

Ich wäre sehr, sehr, sehr froh darüber, wenn das in naher Zukunft passieren würde. Meine Ankunft und mein erstes Konzert auf der Krim – ich träume sehr oft davon. Ich schließe meine Augen und sehe es vor mir. Aber bisher ist dort nur Aggression, Gereiztheit und Zorn.

Reportage: Die Krim, die ist ein heikles Thema

Wenn Tamila Tasheva über ihre Heimat, vor allem aber ihr Volk spricht, dann tut sie das in sachlichem, sanftem Ton. Die Frau um die 30 mit modisch kurzem Haarschnitt ist Krimtatarin. Und sie ist eine der Gründerinnen des Organisation KrimSOS. Sie spricht darüber, wie sie Gelder auftreibt für Projekte der Organisation in der Ukraine und der Krim. Und darüber, wo dabei die Schwierigkeiten liegen: Gerade westliche Staaten sind gerne bereit, für Projekte mit Flüchtlingen in der Festland-Ukraine zu zahlen. Wenn es aber um Projekte geht, die KrimSOS auf der Krim selbst verfolgt, gwlten andere Regeln – auch, wenn es nur um so Dinge wie Rechtsbeistand für inhaftierte Tataren oder pro-ukrainische Aktivisten geht. Dennoch: Die Furcht vor diplomatischen Folgen wiegt schwerer.

Es ist ein klein wenig so, als wiederhole sich gerade die Geschichte. Keine 25 Jahre hatte die Heimkehr der Tataren auf die Krim gehalten. Mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 hat sich das Blatt wieder gewendet – viele Krimtataren flohen von der Krim in die Festlandukraine – und landeten damit neuerlich in der Diaspora. Viele gingen nach Kiew, viele nach Lviv (Lemberg), viele blieben im Süden der Ukraine nahe der Grenze zur Krim.

Auf der von Russland annektierten Krim selbst ist mittlerweile fast alles verboten, was Selbstorganisation angeht. Und vor allem im Visier der Behörden stehen die Tataren – allen Versprechen des Kreml zum Trotz. Die krimtatarischen Mejlis, eine institutionalisierte Selbstverwaltungs-Körperschaft der Tataren, ist verboten. Tatarische Schulen wurden geschlossen. Tatarische Vereine können ebenso nicht offen arbeiten. So auch KrimSOS. Die allermeisten dieser Strukturen existieren heute auf Gebiet, dass von den ukrainischen Behörden kontrolliert wird. Und die allermeisten davon haben ihren Hauptsitz in Kiew.

Wie viele Tataren von der Krim nach Kiew geflohen sind, lässt sich kaum sagen. Tamila Tashewa spricht von um die 10.000. In der ganzen Ukraine wurden 27.000 Menschen von der Krim – allerdings nicht nur Tataren – als IDPs registriert. Andere Zahlen gehen aber alleine von 30.000 geflohenen Tataren aus. Nicht alle IDPs ließen sich auch als solche registrieren.

Aufgenommen worden seien die Ankömmlinge dabei, so sagt Tamila Tashewa, durchaus positiv. Sie geht sogar soweit zu sagen, dass die Vorkommnisse um die Krim infolge der Maidan-Revolution an der Tatarische Gruppen auch maßgeblich beteiligt waren, die allgemeine Meinung über die Tataren weitaus verbessert hätten. Und dann auch der Sieg der Sängerin Susana Alimiwna Dschamaladinowa (Jamala) beim Songcontest 2016 mit einem Lied, das die tatarische Deportation durch Stalin 1944 zum Thema hatte. Den Songcontest ausrichten zu müssen freute zwar nicht alle, das Lied selbst aber fand breite Zustimmung.

Tatsächlich erfreuen sich die zahlreichen neuen tatarischen Restaurants in der Stadt großem Andrang. Eine Frau sagt dazu: „Es ist schön zu sehen, dass Kiew zu einer multikulturellen Großstadt wird – und das liegt vor allem an den Tataren.“ Probleme, so sagt, Tamila Tashewa, habe es nur vereinzelt gegeben – und da vor allem in der Provinz. Eine Tendenz sei aber nicht auszumachen.

Probleme macht sie eher auf der Krim selbst aus. Dass die Mejlis – eine „national ausgerichtete Organisation“, wie sie sagt – verboten wurden, dass der Druck auf die Tataren massiv zugenommen habe, habe auch dazu geführt, dass konservativere Gruppen mehr Einfluss erhalten hätten. Eine Radikalisierung gebe es aber nicht. Viel eher macht sie den Umstand aus, dass die Tataren auf der Krim selbst gelernt hätten, unter den neuen Umständen effizienten Protest zu kultivieren. „Wir müssen über die Annektion reden, über die Menschenrechtsverletzungen“, sagt die Aktivistin. Gerade auch angesichts des Umstandes, dass die Politik der ukrainischen Regierung in der Frage alles andere als effizient sei. „Es fehlt an einer Strategie zur friedlichen Deokkupation der Krim. Es fehlt an politischer Einigkeit und Verständnis.“

Buchläden sind zurückgekehrt in das Zentrum Kiews – an die besten Adressen. Dorthin wo sich zuvor Flagship-Stores unerschwinglicher Modemarken einquartiert hatten, um eine Glamour-Welt zu zelebrieren, der sich mehr und mehr junge Kiewer aber bewusst verweigern. Eine "neue Generation" nennt es Pavlo Shwed. Eine, die sich aus Literaten, Musikern, Malern, Aktivisten, Grafikern, Designern, Intellektuellen oder einfach Interessierten zusammensetzt. Bärte, bunte Billig-Sonnenbrillen, selbst gedrehte Zigaretten, Retro-Räder, schicke Kleider und Cafes. Eine Do-It-Yourself-Generation, die mit genüsslicher Selbstironie mit Gepflogenheiten bricht.

Crowdfunding

"Es selbst gemacht" hat auch Pablo Shwed. Aus dem Nichts hat er vor zwei Jahren über Crowdfunding begonnen, Geld für Übersetzungen und Publikationen zusammenzukratzen. Seit damals sind es 18 Bücher, die er über seinen eigenen Verlag Komubook herausgegeben hat – wobei er für sich eine Nische gefunden hat: Moderne Klassiker des 20. Jahrhunderts sowie philosophische und psychologische Literatur. Publiziert wird in ukrainischer Sprache.

Und das ist das Neue.

In den Zeiten der Sowjetunion dominierte Russisch. Die Auswahl westlicher Literatur war limitiert. Nach dem Fall der Sowjetunion änderte sich das zwar, nicht aber die russisch-sprachige Dominanz auf dem Buchmarkt. Ukrainische Publikationen blieben eine Nische.

Wurden vor der Revolution in der Ukraine 2013/’14 90 Prozent der Bücher in russischer Sprache verkauft, so hat sich das umgekehrt – durchaus auch durch hinterfragbare politische Maßnahmen. So war die Einfuhr russischer Bücher zwischenzeitlich immer wieder sanktioniert – was wiederum dazu geführt hat, dass sich ein blühender Schwarzmarkt entwickelt hat. Seit dem Fall der Sowjetunion war die Sprachenfrage in der Ukraine ein zwar von der Politik und einigen extremen Kreisen gerne benutztes, aber in der Lebensrealität der Menschen inexistentes Problem. Mit dem Krieg im Osten der Ukraine und der Annexion der Krim durch Russland ist sie nun in manchen Kreisen durchaus zu einem echten und zum Teil problembehafteten Thema geworden.

Pablo Shweds Ein-Zimmer-Wohnung in einem Außenbezirk Kiews ist eine vielsprachige Bibliothek. Tausende Bücher stapeln sich. Sprachen sind für ihn, der Ukrainisch, Polnisch, Russisch, Deutsch, Englisch und etwas Französisch spricht, kaum ein Hindernis. Als "frustrierend" beschreibt er aber das Warten auf Veröffentlichungen in seinen Interessensbereichen – was den Ausschlag zu seinem Projekt gab. Heute passiert, was es vor weniger Jahren noch nicht gab. Internationale Autoren, versuchen in der Ukraine gezielt auf Ukrainisch publiziert zu werden, diverse Massenmedien publizieren plötzlich Rezensionen und Lese-Listen. Ein Markt sei es heute, sagt Pablo Shwed, der vom Interesse der Leser getrieben werde. So war die Buchmesse im Kiewer Kulturzentrum Arsenal über Jahre ein Minderheitenprogramm. 2014 rannten Interessierte den Veranstaltern aber plötzlich die Türen ein.

Nicht mehr politisch

Von einem bisher nicht dagewesenen Selbstverständnis spricht Pablo Shwed: "Auf Ukrainisch zu publizieren ist heute keine politische Sache mehr – Verlagshäuser versuchen eben nicht mehr Politik zu machen, sondern Geschäft." Und so sieht er auch die Praxis der 90er- und frühen 2000er-Jahre durchaus kritisch, als Übersetzungen sehr oft durch Gelder staatsnaher westeuropäischer Kultur-Institutionen zustande kamen: "Das war vielleicht im zeitlichen Kontext sinnvoll – aber nicht nachhaltig."

Der Gewinn bei einer Publikation ist gering, der Wettbewerb hart. Die Konsequenz ist laut Pablo Shwed ein Problem mit der Qualität von Übersetzungen – zum Teil auch, weil Verleger die Originale nicht kennen würden. Bei aller Dynamik – eine Publikation, die 2000 oder 3000 Exemplare verkauft, ist bereits ein Erfolg. Gegenüber fast 50 Millionen Einwohnern eine verschwindend geringe Zahl. "Wir stehen am Anfang", sagt Pawlo Shwed. Dass sich Buchläden aber an den teuersten Adressen Kiews ansiedelten, sagt er, "das hat schon Symbolkraft."

Kiew, am linken Ufer des Dnipro. Eine Schlafstadt: Wohntürme, Supermärkte, Autoschnellstraßen und Zubringer, ein Kongresszentrum. Hier steigt ab Mitte nächster Woche der Eurovision Song Contest. An der nagelneuen U-Bahn-Station Liwoberezhna wird noch gebaut. Einige Kioske vor der Station mussten verschwinden. Geblieben sind ein kleiner Straßenmarkt, einige alte Damen, die unter einer frisch bemalten Autobahnbrücke selbstgepflückte Blumensträuße für umgerechnet ein paar Cent verkaufen, haufenweise Polizisten und ein alter Herr, der vor der Station auf einem verbeulten Saxofon spielt – begleitet von einen Drum-Computer.

"Kiew ist nicht hübsch und wird es nie sein", sagt ein junger Mann mit Locken und modisch seitlich abrasiertem Haar über die abgebauten Kioske und die frisch gestrichenen Fassaden an diesem ansonsten eher vernachlässigten Flecken der Stadt. Gegen den Contest ist er nicht, wie er sagt. Nur dagegen, dass Kiew sich selbst als etwas präsentieren will, dass es nicht ist. Nämlich eben "hübsch", wie er meint. Was Kiew den Besuchern zu Eurovision zeigen wolle, komme viel eher einer "Fantasie von Kiew" gleich – sei aber eben nicht Kiew. Den U-Bahn-Zug in die Stadt nützt dann ein älterer Herr mit einer Gitarre, für seinen eigenen kleinen Contest. Er besingt die Liebe und die Schönheit für ein Paar Geldscheine.

Fluchtort

Kiew, das ist eine Stadt deren gesamte Textur sich in den vergangen Jahren von Grund auf verändert hat. Eine Stadt der Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen politisch und völlig unpolitisch, zwischen politischen Extremen, zwischen sowjetischer Mentalität und Aufbruch. Von den geschätzten 1,3 Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine vor dem seit 2014 tobenden Krieg im Osten und der Annexion der Krim durch Russland geflohen sind, ist die überwiegende Mehrheit nach Kiew gegangen. Der Krieg ist fern hier. Mit der Revolution 2013 und 2014 hat sich Aufbruchstimmung breitgemacht – neue Läden, neue Lokale, neue Clubs, neue Freiheiten. Vor allem aber: ein durchaus zuweilen großes Selbstbewusstsein der Bürger dem Staat und seinen Autoritäten gegenüber.

Zugleich aber hält eine hartnäckige Wirtschaftskrise die Stadt wie auch das gesamte Land hartnäckig in Atem bei damit einhergehendem Währungsverfall. All das gewürzt mit den Nachrichten von Tod und Gewalt an der Front und mehr oder weniger gelenkt von einer politischen Elite, die mit dem neuen Ego der Wählerschaft nur zum Teil umzugehen gelernt hat.

Es sind Schlafbezirke wie jene am linken Ufer des Dnipro, in denen sich die Probleme der Stadt manifestieren. Es ist hier, wo Binnenflüchtlinge aus dem Osten des Landes Fuß zu fassen versuchen. Das geht nicht immer ohne Konflikte vonstatten. Und mitunter ist es ein kleiner Kulturkampf, zwischen Ost- und Westukraine, der sich hier bemerkbar macht – etwa bei der Arbeitssuche.

Mitunter sind es aber auch ganze Organisationen und Institutionen, die aus dem Osten des Landes nach Kiew gegangen sind und die Stadt nachhaltig geprägt haben. So die Kultur-Institution Izolyatsia, einst das Aushängeschild der Kunst-Szene des Donbass mit Sitz in Donezk, jetzt eine Institution in Kiew, die in leer stehenden Gebäuden einer Werft Arbeits- und Ausstellungsräume für Kreative anbietet und selbst internationale Kulturschaffende nach Kiew bringt. Auch das nicht immer ohne den Neid alteingesessener Kultur-Institutionen. Aber Izolyatsia hat sich durchgesetzt – wenn auch mit offenem Unverständnis der angrenzenden Werft konfrontiert. Da werden dann Dinge wie vom Dach aus zu fotografieren zum Problem. "Sowjetische Paranoia" nennt das der junger Mann, der den Coworking Space von Izolyatsia nutzt.

Oleksandr Wynogradow stammt selbst aus Kiew und arbeitet für Izolyatsia. "Es ist gerade die Intelligenz aus dem Osten der Ukraine, die derzeit alles in Kiew vorantreibt und die Stadt zu dem macht, was sie ist", sagt er.

Als Motor des Kulturlebens bezeichnet er den Zuzug aus dem Osten. Auch wenn er diesen Vergleich nicht ziehen will, so fällt dann doch der Name Berlin. Und auch, wenn er das relativiert, sagt er: "Heute ist Kiew kosmopolitischer als zuvor."

Liubom Mikhailowa, Initiatorin von Izolyatsia, sieht das pragmatisch: "Die Macht", sagt sie, "hat ihre eigene Agenda." Aber: "Sie haben uns arbeiten lassen und standen uns nicht im Weg; und jetzt kommen sie sogar zu Events und sagen, dass sie unsere Arbeit mögen."

Das ist neu in der Ukraine.

Harte Realität

Über harte Realitäten kann das aber nicht hinwegtäuschen. "Was bleibt einem, als sich nebenbei etwas schwarz dazuzuverdienen, wenn man sich die Miete nicht mehr leisten kann, aber eine Familie zu versorgen hat?", sagt ein Herr, ein Elektriker, der nebenbei Taxi fährt oder an Wochenenden pfuscht. Genau die Schwarzarbeit ist es aber, durch die dem Staat Steuereinnahmen entgehen. "Wieso soll ich denen auch nur einen Cent zahlen", sagt ein anderer Herr mit Ledermütze, der ein kleines, nicht näher benanntes Business besitzt, wie er sagt. In der politischen Elite des Landes wie der Stadt sieht er nur Kriminelle.

Zugleich aber beschweren sich beide über Reformstau, dass nichts weitergeht in der Ukraine und Behörden korrupt sind, weil die Löhne zu gering sind.

Chance Song Contest

Lyudmila Bereznitski, Abgeordnete im Stadtrat Kiew wiederum weist gar nicht zurück, dass es Probleme gibt. "Aber es gibt auch Fortschritt und Verbesserungen", sagt sie. Und Eurovision sei vor allem eines: Eine Chance.

"Wir sind gewissermaßen Anarchisten", sagt Oleksandr Wynogradow über die Ukrainer im allgemeinen. "Meister in der Improvisation", nennt es eine Dame um die 40. Und Shenja, ein junger Programmierer, sagt "die Behörden haben es in vielen Bereichen einfach aufgegeben, alles regulieren zu wollen." Was daraus entstehe? Er nennt es: "Freiräume." Freiheiten, die alle möglichen Lager nutzen.

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Eine kleine Eurovision-Episode – ein kleiner Einakter: Die Stadtverwaltung unter Bürgermeister Vitali Klitschko wollte den aus Sowjetzeiten bestehenden riesigen Eisen-Bogen am Ende der Stalin-Gotik-Prachtstraße Khreshatik im Zentrum anlässlich des Song Contests in Regenbogenfarben bemalen. Rechtsextreme Aktivisten waren dagegen und sabotierten das Vorhaben. Der Kompromiss: Die noch nicht bemalten Teile des Bogens sollten mit traditionellen ukrainischen Stickerei-Mustern bemalt werden. Die Reaktion: Vor allem Hohn und Unverständnis. Ein Bursche in dem Park um den Bogen sagt: "Was ist falsch an einem Regenbogen? Wen soll das kümmern?"

Klitschko hat es geschafft, in die zweifelhaften Fußstapfen seiner Amtsvorgänger als Bürgermeister zu treten. Die hatten sich vor allem durch Inkompetenz und zuweilen im besten Fall schrullige Verhaltensauffälligkeiten hervorgetan. Klitschko wird eher belächelt als ernst genommen. Als eine Straßenbrücke in einem versifften Außenbezirk zusammenbrach und nur durch Zufall niemand getötet wurde, kursierte im Internet ein Foto von ihm am Schauplatz des Unglücks. Die Sprechblase: "Hier ist doch kein Fluss, wieso brauchten wir da eine Brücke?"

Homosexualität: "Solange ihr in euren Clubs bleibt"

Ein soziales Experiment sollte es werden: Ein Spaziergang zweier Männer Hand in Hand durch das Zentrum Kiews, all das mehr oder weniger heimlich gefilmt. Nach zwei Stunden eskaliert die Sache auf der Khreshatik, dem zentralen Boulevard Kiews. Zwei junge Männer attackieren Zoryan Kis und seinen Lebensgefährten mit Pfefferspray.

Vor zwei Jahren war das. Heute sitzt Zoryan Kis in einem Cafe im ebenso schicken wie schmuddeligen Bezirk Podil und trinkt grünen Tee. Es ist eine gemischte Bilanz, die er aus den Jahren seit der Revolution 2013 und 2014 zieht.

Von Schritten nach vorne spricht er. Aber ebenso von Stillstand und der Möglichkeit, dass sich die positiven Entwicklungen der letzten Jahre durchaus auch in Luft auflösen könnten. Denn, so sagt er: Der Schwung in der politischen Debatte nach der Revolution 2013/’14, der sei dahin. Schwul oder lesbisch zu sein in Kiew nennt er dann aber doch noch "relativ sicher".

Tabu

Sex an sich ist ein Tabu in der Ukraine – auch wenn das Thema auf Werbetafeln und im Stadtbild omnipräsent ist, so sind es dann aber doch die klassischen Rollenbilder, die Werbesujets und öffentliche Debatte dominieren: Alphamännchen und adrettes Weibchen.

Homosexualität, Travestie, Bisexualität, Queer haben da keinen Platz.

Dabei ist die politische Debatte durchaus fortgeschritten. So wurde etwa ein Gesetz verabschiedet, das sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz verbietet. Präzedenzfälle gibt es aber nicht. Zu folgenschwer wäre es im privaten Umfeld wie auch im beruflichen für die Allermeisten, sich zu outen.

Im nationalen Aktionsplan der Regierung ist auch vorgesehen, ein Gesetz für eine eingetragene Partnerschaft für homosexuelle Paare zu entwerfen. Bloß: "Es fehlt an politischem Willen", wie Zoryan Kis sagt. Konservative Kräfte sind im Parlament absolut in der Mehrheit. Die Zahl der Übergriffe nahm laut Zoryan Kis zwar auch zu, zugleich aber habe sich die Haltung der Polizei massiv verbessert.

Stillschweigen

Dabei besteht eine durchaus organisierte Schwulen und Lesben-Szene in Kiew, die mehr und mehr danach trachtet, auf die eigenen Rechtsansprüche öffentlich aufmerksam zu machen. Es gibt Clubs, zivilgesellschaftliche Organisationen.

Und, so sagt Zoryan Kis, mit der extremen Rechten zumindest in Kiew auch so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft, dass diese Treffpunkte nicht angetastet würden. Frei nach dem Motto, wie er meint: "Solange ihr in euren Clubs und Schlafzimmern bleibt, lassen wir euch in Ruhe."

Die jährlich anwachsenden Pride-Märsche in Kiew bedurften in den vergangenen Jahren aber jeweils großer Polizeipräsenz. Wobei sich die Zusammenarbeit mit der Polizei, wie Kis sagt, in den vergangenen Jahren massiv verbessert habe: Von der Verweigerung der verantwortlichen Polizeikräfte bei den Vorbereitungen, LGTB-Aktivisten die Hand zu schütteln, bis zu "exzellenter" Kooperation im Vorjahr, wie Kis sagt. Da mache sich die Reform der Polizei, die vielfach auch kritisiert wurde und wird (zu unprofessionell, "Kinder" nennt sie ein Mann), in positivstem Sinne bemerkbar.

Machismus

Es seien letztlich die festgefahrenen Geschlechter-Rollenbilder, gegen die die LGTB-Community in der Ukraine in vielen Bereichen anrenne. "Was wir als Schwule durch unsere schiere Existenz tun ist nichts weniger, als die Macho-Kultur in diesem Land in Frage zu stellen", sagt Kis. Eine Macho-Kultur die ihre Wurzeln in der sowjetischen Sozialisierung habe, in der Sex eine reine Sache der Fortpflanzung und keinesfalls der Lust war – was von den Kirchen des Landes heute massiv weitergetragen werde. Wobei religiöse Führer wieder ganz offen Druck auf die Politik ausüben würden. Und mit dem Krieg, so sagt Kis, habe sich dieser Machismo durchaus verstärkt.

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Und Druck kommt auch von rechten Gruppen, die das Regenbogen-Beispiel in Kiew zeigt (siehe links): Rechte Gruppen hatten gegen die Bemalung eines riesigen Stahl-Bogens im Zentrum Kiews in Regenbogenfarben demonstriert. Auch auf diesen Vorfall antwortete Zoryan Kis mit einem Video: Darin empfiehlt er den Zusehern beim Betrachten des Regenbogens eine Schweißbrille, eine Röntgenbild, eine getönte Glasflasche oder Sonnenbrillen vor die Augen zu halten, um nicht von Homosexualität infiziert zu werden. Was der LGTB-Szene bleibe, so sagt er: Eine Offensive in die Öffentlichkeit. "Die Menschen müssen uns kennenlernen."

Irgendjemand müsse ja damit anfangen.