Sinnliches Vergnügen mit weißen Würmern
Von Peter Pisa
Wieso lechzt man derart nach einem Abenteuerroman und freut sich richtig auf einen stundenlangen Marsch durch den Busch, bloß zu einem verdorrten Baum, in dem weiße Würmer leben, die man essen kann?
Dort gibt es kein Geld, man sitzt nackt rund um die Feuerstelle, wo Fleisch und Muscheln gebraten werden, und dann singt man, und später tanzt man, jedenfalls plappert man wenig und schmiert mit roter Erde Kreise um die Brustwarzen ...
Ein unerklärliches sinnliches Vergnügen packt einen allein beim Lesen. Was wäre es wert, "wild" zu sein?
Françoise Garde erzählt die – zum Teil wahre – Geschichte eines französischen Matrosen, der im Jahr 1843 im Osten Australiens an Land ging, um Trinkwasser zu suchen.
Weil er dabei etwas zu langsam war, segelte das Schiff ohne ihn weiter.
Sonne und Stille
18 war Narcisse Pelletier damals, und wir können beobachten, wie die Aborigines den Fremden zunächst ignorierten, ihn aber nicht verhungern und verdursten ließen: Als Letzter bekam er immerhin Eidechsenknöchelchen zum Abnagen.
17 Jahre später wird er am Strand zufällig von Engländern entdeckt und nach Frankreich mitgenommen.
Er hat seine Sprache verlernt. Er hat sein früheres Leben vergessen, sogar seine Eltern. Er sagt jetzt "Amglo", wenn er sich selbst meint. "Amglo" heißt Sonne, das war der Name, den ihm der Stamm gegeben hat. Seine neue Mutter hieß "Stille", sein kleiner Freund "Ameise".
Eines der ersten – wie man so sagt, – zivilisierten Wörter, die er wieder lernt, ist (Pardon) "vögeln".
Unterbrechungen
Fast ist man darüber beleidigt, dass sich Françoise Garde – früher Regierungsbeamter auf Neukaledonien – nicht damit begnügt, auf Schritt und Tritt bei seinem Helden zu bleiben.
"Was mit dem weißen Wilden geschah" wechselt nämlich immer wieder zu höflichen, der Zeit entsprechenden, mitunter faden Briefen:
Jener Wissenschaftler, der Narcisse Pelletier nach der angeblichen Rettung begleitet (und erforschen will), berichtet einem berühmten Kollegen.
Groß ist die Verwunderung, wieso ein Franzose – soll heißen: ein richtiger Mensch – trotz wilder Erfahrungen nicht immer und ewig Franzose bleibt.
Der Roman provoziert viele Fragen – aber er hütet sich davor, deutlich zu werden. Er lässt die Leser freundlicherweise allein denken. Dafür gab es 2012 den renommierten Prix Goncourt für das beste Debüt.
In den wesentlichen Punkten hält es der Autor immer mit Narcisse Pelletier vulgo Amglo – und schweigt.
Denn: Reden ist wie sterben.
KURIER-Wertung: