Roman über Arthur Schnitzlers letzte Jahre
Von Peter Pisa
Über Goethe und Schiller und Thomas Mann hat er viel geschrieben, mit Philip Roth und Max Frisch hat er mehrmals gesprochen.
Aber fragt man den Hamburger
Volker Hage (Bild unten), mit welchem Dichter er gern einen Abend verbracht hätte, kommt die Antwort: Arthur Schnitzler, der hätte ihn menschlich interessiert („bei Goethe und Schiller wäre ich zurückhaltender ) ...
„Schnitzler hätte ich am liebsten daheim besucht“, in der Sternwartestraße 71, und weil das nicht möglich ist, erfand Hage einen Fan aus Lübeck, den Schnitzler ins Haus einlud und geduldig seine Fragen beantwortete. So sagte er zum Beispiel:
„Man vermag seinen eigenen Schmerz nicht ganz zu fühlen. Das ist unsere Unzulänglichkeit und unsere Rettung.“ (Es sind Antworten, die ihre Entsprechung in Schnitzlers Schriften haben.)
Bei diesen Worten dachte er wohl an seine Tochter Lili, die sich umgebracht hatte, 18-jährig ...
Beim Enkel
Noch nie war Schnitzler (Bild oben) seinen Lesern derart nah wie in „Des Lebens fünfter Akt“. Mit dem Titel sind seine letzten Jahre gemeint, 1928 bis 1931. Freilich könnte man Tausende seiner Tagebuchseiten studieren.
Es geht jedoch kürzer, dann tut es schneller weh. Denn Hage – einer der bekanntesten Literaturkritiker, viele Jahre bei Zeit und Spiegel – hat den Roman aus Schnitzlers Aufzeichnungen destilliert. UND er hat in
Lili Schnitzlers Notizen Einblick nehmen dürfen: Sie werden nicht in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt, sondern im Deutschen Literaturarchiv in Schillers Geburtsstadt Marbach – und sind für die Öffentlichkeit gesperrt: „Bis 2020“, erklärt Hage im KURIER-Gespräch. „Ich bin persönlich in Wien bei Schnitzlers Enkel Michael Schnitzler in der Sache vorstellig geworden.“
Frauenversteher
Man weiß wenig über Lili, die einen (netten) Italiener heiratete. Mit einem alten Revolver schoss sie sich in die Brust, die Wunde war nicht so schlimm, dass die Kugel verdreckt war, tötete sie.
Arthur Schnitzler las ihr Tagebuch. Las, wie „mannstoll“ die Tochter war. Las von ihren sexuellen Wünschen. Erfuhr, was er nie erfahren wollte. Auch dass Lili des öfteren zur Waffe gegriffen hatte, wenn es Streit gab.
Arthur Schnitzler las und war verloren. Er, der große Frauenversteher, der Seelenforscher, der umkreist wurde von seiner Ex-Ehefrau, von seiner Lebensgefährtin, einer jungen Pianistin, einer jungen Schriftstellerin, eins, zwei, vier, fünf Frauen ... er hatte sie geliebt und sie verklärt, aber verstanden hat er die Tochter nicht.
„Aber wer versteht schon das eigene Kind?“ (Volker Hage) „Und gar eine Lili!“
Volker Hage:
„
Des Lebens
fünfter Akt“
Luchterhand
Verlag.
320 Seiten.
20,60 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern