Richard Powers' neuer Roman: Nie wieder "baumblind"!
Von Peter Pisa
Was für ein Bücherjahr!
So viele Romane, die aufbegehren, schreien, weinen – die verändern können und nicht kalt (werden) lassen ... und jetzt noch „Die Wurzeln des Lebens“ des Amerikaners
Richard Powers (Bild oben), berühmt dafür, Wissenschaft in Literatur umzuformen.
Ist man mit dem Buch fertig (was bei mehr als 600 Seiten einige Zeit dauern wird), hat man Gefühle wie Schuld und Ärger und Kummer. Das neue Wort „baumblind“ wird man nicht vergessen:
Ents
Der Mensch sieht keine Bäume. Er sieht Obst, Nüsse, er sieht Äste, wenn sie im Sturm aufs
Auto krachen. Aber Bäume sind unsichtbar.
Dabei: Ohne Bäume keine Menschen ...
Powers ließ sich von den Ents aus „Der Herr der Ringe“ inspirieren. („BAUM? Ich bin kein Baum ... Ich bin ein Ent.“)
Am liebsten hätte er einen Roman geschrieben, in dem alle Hauptfiguren – Bäume sind. Aber erstens, sagt er, reiche seine Kreativität dafür nicht aus. Zweitens bezweifelt er, dass ihm die Leser dann folgen.
Sein zwölftes Buch gehört trotzdem ganz den Bäumen.
Etwa den Amerikanischen Kastanien, die Anfang des 20. Jahrhunderts von einem asiatischen Pilz epidemisch dahingerafft wurden (drei bis vier Milliarden Tote).
Den Maulbeerbäumen, die in
China für Wohlstand sorgten. Und den Bäumen, die man in einem Computerspiel pflanzen kann. Einem Lindenbaum, gegen den ein Auto prallt. Einer Eiche, von der jemand stürzt (und sich im Rollstuhl fragen wird, ob die Äste gezittert haben).
Eine Eiche ist es auch, die uns – so könnte man glauben – „Die Wurzeln des Lebens“ erzählt.
Die Teile des Romans heißen Wurzel, Stamm, Krone und Samen.
Im „Wurzel“-Stück wird die Grundlage gelegt, indem von neun Leben erzählt wird. Neun Kurzgeschichten, die sich um Bäume drehen. Zum Teil in Bann schlagend, immer dramatisch: Kohlenmonoxidvergiftung, Selbstmord mit Pistole usw.
Anschließend kommen die Jungen aus diesen Familiengeschichten irgendwie zusammen, nun sind sie Umweltaktivisten; und dass Polizisten in den USA Demonstranten, die sich an Bäume ketteten, mittels Wattestäbchen quälten, in Chili-Tinktur getupft und danach in die Augen, so etwas ist hoffentlich niemals geschehen.
Es ist.
Gebet
Im wilden, manchmal zu wilden
Geäst haben zwei Frauen die wichtigsten Plätze. Das ist die Botanikerin Patricia, von Kollegen anfangs ausgelacht, als sie Studien vorlegt, wonach Bäume miteinander kommunizieren: dass sie einander vor Schädlingsbefall warnen, indem sie Duftstoffe ausstoßen.
Und es ist Olivia, eine Studentin, die nach einem Unfall Stimmen hört, die sie zu den kalifornischen Mammutbäumen lenken. Sie brauchen Hilfe. Die Nimmersatten wollen roden, um den Profit zu steigern.
Das Buch ist Meditation. Ein Gebet. Nicht Bäume sollst du fällen, sondern Vorurteile. Nicht Stämme zersägen, sondern den Irrglauben, der Mensch sei das Größte ist. Nicht nur Bäume sollen wachsen, sondern auch das Wort „Baum“. Richard Powers hat’s vorgemacht.
Richard
Powers: „Die Wurzeln des
Lebens“
Übersetzt von
Gabriele Kempf-Allié und
Manfred Allié.
S.Fischer.
624 Seiten.
26,80 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern