Reportage: Kunst, Juden und Lenin im Fernen Osten
Von Thomas Trenkler
Simon Mraz einen Floh ins Ohr zu setzen, ist nicht so schwer. Denn es gibt keinen anderen, der sich mit ähnlichem Enthusiasmus in ein Abenteuer stürzt. Der Leiter des österreichischen Kulturforums in Moskau hat schon mehrfach bewiesen, dass er in der Lage ist, an den unmöglichsten Orten Ausstellungen von Belang zu realisieren.
Bereits seit Längerem sinnierte er über einen Beitrag zum 100-Jahr-Jubiläum der Revolution, die nach dem russischen Kalender im Oktober 1917 stattfand. Eine Kuratorin riet Mraz daher, das Museumszentrum in Krasnojarsk zu kontaktieren.
In der früher geschlossenen, also nicht zugänglichen Atomindustriestadt an der Transsibirischen Eisenbahn (4098 Kilometer von Moskau entfernt) wurde 1987 das größte, 13. und letzte Lenin-Museum der UdSSR eröffnet. Damals hatte Michail Gorbatschow bereits die Perestroika, die Umgestaltung der Sowjetunion, eingeleitet.
Vier Jahre später war der Kommunismus Geschichte. Und der Held der Revolution, der sich Lenin genannt hatte, wurde vom Podest gestürzt. Ein Museum, das ihn glorifizierte, brauchte niemand, nicht einmal in Sibirien. In Krasnojarsk musste man sich umorientieren. Und entdeckte die zeitgenössische Kunst.
Mraz wurde sehr freundlich empfangen. Denn 2017 sollte zum zwölften Mal die Biennale von Krasnojarsk, die älteste Russlands, stattfinden. Aus Budgetknappheit hatte sich das Hauptprojekt aber nicht realisieren lassen. Man war dankbar, dass jemand, noch dazu ein internationaler Partner, eine Ausstellung realisieren wollte.
Wobei man sagen muss: Mraz schätzte die Lage ein bisschen falsch ein. Er dachte, dass man allerorts der Revolution gedenken würde. Daher wählte er ein spezielles Thema, das Dorf. Denn der Umsturz ging nicht von der Stadt aus, sondern vom Land. Doch Wladimir Putin hält nicht viel von Revolution. Sie sei zerstörerisch; er, der Präsident, will aufbauen.
Was dazu führte, dass nur Österreich an die Revolution erinnert. Die Schau, am 5. Oktober eröffnet, nennt sich "Mir – the World and the Village". Das russische Wort "Mir", wie die sowjetische Raumstation hieß, die von 1986 bis 2001 die Erde umkreiste, bedeutet "Welt" wie "Frieden" – und ist auch ein alter Ausdruck für "Dorf".
Mächtige Handläufe
Mit Unterstützung von Sponsoren lud Mraz auch ein paar österreichische Journalisten zur Eröffnung ein. Sie kamen aus dem Staunen kaum heraus. Allein schon wegen des monströsen Bauwerks, das vom ZK, dem Zentralkomitee der UdSSR, in Auftrag gegeben worden war. Es besticht durch seine Respekt einflößende Architektur wie das Design – etwa der mächtigen Handläufe. Vom einstigen Glanz ist allerdings nicht viel übrig geblieben. Weil die Fassade großflächig abbröckelt, wurden Fangnetze montiert. Das Museum wirkt nun wie eine getarnte Militärbasis. Zudem regnet es herein.
Bereits auf der Freitreppe entdeckt man etliche Skulpturen, darunter eine riesige Matrioschka aus verrostetem Eisen. Ganz mit der Vergangenheit gebrochen hat man aber nicht: Die Dauerausstellung blieb zum Gutteil erhalten, Künstler wurden eingeladen, sich kritisch mit der Inszenierung des "Helden" (etwa in den riesigen Dioramen) auseinanderzusetzen.
Im Atrium zum Beispiel beließ man den Schriftzug mit Lenins Losung "Wir werden Russland umwälzen", da man dies nun mit den Mitteln der Kunst versucht, und kontrastiert sie mit dem Wort "Malewitsch" in der Typografie des Lenin-Mausoleums. Oder: Vor dem Ölgemälde, das Lenin im Sterbebett zeigt, zappelt in einem Video ein Untoter, der dem Porträtierten ziemlich ähnlich sieht.
Ja, die Künstler dürfen durchaus intervenieren. Obwohl es zu Konflikten kommen kann. Vor zwei Jahren wurde der Direktor, der das Museum zum drittgrößten für zeitgenössische Kunst in Russland gemacht und 1993 die Biennale initiiert hatte, höflich, aber bestimmt gebeten, in Pension zu gehen.
Nachfolgerin Maria Bukova und Sergei Kowalewski, der künstlerische Leiter, halten aber am Kurs fest. Das Museum ist daher auch zu einem Haus der jüngeren Geschichte geworden: Schonungslos werden in Installationen der Gulag, die Hauptverwaltung der Arbeitlager, und die Kriege in Tschetschenien oder Afghanistan beleuchtet. Und eine Lenin-Statue hat man einfach um 90 Grad gedreht: Sie studiert nun stumm den Fluchtplan.
Die Ausstellung über das Dorf mit 30 Beiträgen russischer und österreichischer Künstler, darunter Onka Allmayer-Beck, Benjamin Eichhorn, Gregor Sailer und dem Club Fortuna, fügt sich erstaunlich gut ein. Viele begaben sich auf Spurensuche, sie drehten Videos über untergegangene oder dem Untergang geweihte Dörfer (Alex Anikina, Timofey Dubrovskikh), sie thematisierten die Holzhäuser (Leonid Tishkov, Alexander Surikov) und den Zaun (Boris Matrosov), die dort vorgefundenen Kulturpflanzen (Ilya Dolgov) und so weiter. Danila Tkachenko zeigt das Foto eines brennendes Dorfes, davor breitet sich eine "Landschaft" mit kubischen Objekten aus Draht von Anya Zholud aus: Den vielen "Häusern" ist ein ähnlich großes Feld mit "Gräbern" gegenübergestellt.
Und die Gruppe "Where the Dogs Run" aus dem Ural konstruierte eine Maschine, die zweierlei Borschtsch kocht. Die Mischungsverhältnisse der Ingredienzien basieren dabei auf der Häufigkeit zentraler Wörter in revolutionären Texten vor 100 Jahren und heute. Wie der Geschmackstest bestätigt: Die neue Suppe schmeckt fad, sie enthält weit weniger Philosophie (also Fleisch) und Propaganda (also Salz).
Doch Mraz ließ es damit nicht genug sein. Bei seinen Recherchen über das Dorf stieß er auf Birobidschan, die Hauptstadt des Jüdischen Autonomen Gebiets. Dieses gibt es wirklich. Lenins Nachfolger, Stalin, wollte den Juden einen Staat schenken. Aufgrund von Antisemitismus kam schließlich nur ein kaum besiedeltes Gebiet infrage, eben das Grenzgebiet zu China im Fernen Osten. Zumindest lag es schon damals an der Transsib (Birobidschan ist 8351 Kilometer von Moskau entfernt).
Juden in Waldheim
Mraz lachte hell auf. Er animierte Künstler aus Israel, Österreich, Russland und Amerika, sich mit Birobidschan auseinanderzusetzen. Die Videos, Fotos und Polaroids waren bis 8. Oktober in der dortigen Philharmonie zu sehen. Der Betonbau ist viel zu groß für die Kleinstadt. Es gibt kein Orchester. Und so kommt man aus dem Staunen kaum heraus.