Pop-Ballett auf Tschaikowskys Spuren
Eine "Show für die ganze Familie" wollten Neil Tennant, sein Duo-Partner Chris Lowe und Choreograf und Regisseur Javier De Frutos schaffen, als sie voriges Jahr in London das Ballett "The Most Incredible Thing" inszenierten. Am 13. und 14. April ist die spektakuläre Multimedia-Show im Festspielhaus St. Pölten zu sehen. Im Interview mit dem KURIER erzählt Neil Tennant, welcher verblüffende Zufall ihn dazu inspiriert hat.
KURIER: Wie kamen Sie auf die Idee, ein Ballett zu schreiben?
Neil Tennant: Ich kenne den Ballett-Tänzer Ivan Putrov. Er rief mich an und fragte, ob Chris und ich ein Stück für ihn schreiben würden. Zwei Tage später telefonierte ich mit Chris und er schwärmte mir von einer neuen Übersetzung der Märchen von Hans Christian Andersen vor. Er war speziell von "The Most Incredible Thing" begeistert, sagte, das wäre der perfekte Stoff für ein Ballett. Das war ein so verblüffender Zufall, dass wir dachten, das müssen wir unbedingt durchziehen.
Was war dabei die größte Herausforderung ?
Als Chris mich anrief, hatte ich selbst das Buch zur Hand. Ich sah mir die Story an und sah, dass sie 32 Charaktere hat. Also musste es eine sehr große Show werden. Ivan hatte uns aber nur um ein 20 Minuten Stück gebeten, das Teil eines größeren Programms sein sollte. Er war überrascht, dass wir so etwas Großes machen wollten – an ein abendfüllendes Stück in drei Akten. Denn wir wollten es wie ein klassisches, erzählerisches Tschaikowsky-Ballett gestalten – aber mit zeitgenössischer Musik, mit einer Mischung aus Pop, House-Beats und klassischen Streichern. Denn zeitgenössische Tanz-Produktionen beschäftigen sich nicht mehr mit dem Erzählen von Geschichten. Wir wollten die beiden zusammenbringen.
Javier De Frutos ist bekannt für sexuell provokante Szenen, ließ in einer seiner Produktionen sogar einmal eine Papst -Figur an einer Orgie teilnehmen. Hatten Sie Angst, dass es mit ihm doch kein Stück für die ganze Familie werden würde?
Wenn Künstler schockieren, geht es meistens darum, ihre Aussage zu unterstreichen. Ich habe das Stück mit dem Papst nicht gesehen, aber denke, dabei ging es um Missbrauch. Das ist ein brandaktuelles, starkes Thema. "The Most Incredible Thing" ist das nicht. Chris und ich wollten, dass das Stück dem Thema entsprechend optisch unglaublich wird. Wir waren überzeugt, dass Javier der Richtige dafür ist. Und er hat tatsächlich ein wunderbares, jugendfreies, Spektakel mit Filmeinspielungen, raffinierten Kulissen und Effekten geschaffen.
Sie haben Ihre Pop-Shows schon immer mit Tanz illustriert. Diesmal illustriert die Musik den Tanz. War der umgekehrte Prozess schwieriger?
Wir hatten natürlich immer im Hinterkopf, dass zu dieser Musik getanzt wird, haben deshalb starke Rhythmen benützt. Aber unser Fokus lag darauf, dass die Musik die Stimmung der Aktionen in den einzelnen Szenen reflektiert. Vor einigen Jahren haben wir einen Soundtrack zum Stummfilm "Battleship Potempkin" geschrieben. Dabei hatten wir den ganzen Film im Computer und konnten Szene für Szene schreiben. Bei "The Most Incredible Thing" hatten wir ein detailliertes Script. Wir wussten, dass wir in der ersten Szene alle Charaktere vorstellen mussten, dass die Prinzessin und der Schurke Karl ein Thema brauchen und so weiter. So war der Prozess dem Schreiben des Soundtracks ähnlich.
Woher kommt Ihre Liebe zu theatralischen Performances?
Wir hatten das Gefühl, dass bei elektronischer Musik die Musiker auf der Bühne nicht sichtbar sein müssen, weil sie ohnehin nur statisch am Keyboard stehen. Daher war die Bühne für uns immer eine leere Leinwand, auf die wir alles projizieren konnten, was wir wollten. Und das sollte sowohl unterhaltend sein, als auch die Bedeutung der Songs verstärken. So hat sich das entwickelt. Und voriges Jahr haben wir bei den "Evening Standard Theatre Awards" einen Preis für "The Most Incredible Thing" bekommen. Das ist schon eine schöne Anerkennung.
Kampf um die unglaubliche Universums-Uhr
Nur drei Seiten lang war das ursprüngliche Märchen von Hans Christian Andersen. Für Neil Tennant und Chris Lowe ist es aber eine faszinierende Parabel über die Macht der Kreativität. Denn in dem Märchen geht es um eine faszinierende Uhr, die das ganze Universum repräsentiert: Der König eines heruntergekommenen Landes will sein hart arbeitendes Volk motivieren und aus der düsteren Routine reißen. Deshalb ersinnt er einen Wettbewerb: Derjenige, der das unglaublichste Ding erfindet, gewinnt nicht nur die Hand seiner Tochter, sondern auch die Hälfte des Königreichs. Der Erfinder Leo, schon lange in die Prinzessin verliebt, baut dafür eine Uhr, die das gesamte Universum repräsentiert. Als er sie vorführt, erwacht sie zum Leben, zeigt unter anderem die vier Jahreszeiten und die fünf Sinne an. Schon scheint Leo damit der Gewinner des Wettbewerbs, als plötzlich Karl auftaucht, selbst gierig auf das Land und die Prinzessin, und die Uhr zerstört. Widerwillig muss der König zugeben, dass dieser Akt der Zerstörung das „unglaublichste Ding“ ist. Doch bei der Hochzeit von Karl und der Prinzessin, tauchen plötzlich die Elemente von Leos Erfindung wieder auf, setzen sich erneut zur Universums-Uhr zusammen – Leo ist doch der Gewinner und darf die Prinzessin heiraten.
Info:
Regie/Choreografie: Javier De Frutos. Konzept, Musik & Songtexte: Neil Tennant & Chris Lowe. Film /Animation: Tal Rosner. Orchestrierung: Sven Helbig. Mit: Aaron Sillis (Leo), Ivan Putrov (Karl), Clemmie Sveaas (Prinzessin).
"The Most Incredible Thing" läuft am 13. & 14. April im Festspielhaus St. Pölten.
Starkes Programm mit Tanz, Lesung und Nostalgie
Das Festspielhaus St. Pölten bietet neben "The Most Incredible Thing" noch ein weiteres Zuckerl für Tanz-Liebhaber: Am 19. Mai ist Sylvie Guillem, die als brillanteste Tänzerin ihrer Generation gilt, in der neuen Produktion „6000 miles away“ zu sehen. Dabei präsentiert sie Werke der Weltklasse-Choreografen William Forsythe, Mats Ek und Jiří Kylián. Der Schwede Mats Ek choreografierte „Bye“ speziell für Guillem zu Musik von Ludwig van Beethoven. Auch das Duo „Rearray“ des Ikonoklasten des klassischen Tanzes William Forsythe wurde eigens für Guillem und den Étoile der Pariser Oper, Nicolas Le Riche, kreiert. Jiří Kyliáns Werk „27’52’’“ basiert auf Gustav Mahlers Musik und wird von Aurélie Cayla und Lukas Timulak getanzt.
Literatur: Außerdem bietet das Festspielhaus St. Pölten in der laufenden Saison spannende Literatur-Abende: Am 10. April liest Schauspielerin Chris Pichler aus Franz Kafkas Roman „Amerika“, Violinist Ernst Kovacic spielt dazu Werke von Johann Sebastian Bach, Igor Strawinski und Friedrich Cerha. Und am 24. Mai lesen Anne Bennent und Josef Hader unter anderen aus Thomas Bernhards Erstlingswerk „Frost“ und aus „Holzfällen“. Otto Lechner wird dabei für den passenden musikalischen Rahmen sorgen. Mit „Nostalgia“, einer Uraufführung von Joachim Schloemer beschließt das Festspielhaus am 2. Juni die Saison. Die Basis für diese konzertante Inszenierung bilden Werke von Wolfgang Amadeus Mozart.