Philipp Weiss: 1200 Seiten, um fünf Mal aus der Welt zu fallen
Von Peter Pisa
Nachdem der Argentinier Jorge Luis Borges ein Gedicht eines unbekannten bolivianischen Dichterkollegen vorgetragen hatte, gestand er seinen Studenten, er habe nichts verstanden – und Borges jubelte, denn so froh war er, dass er etwas Neues und nichts leicht zu Fassendes entdeckt hatte.
„Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ des Wieners
Philipp Weiss könnte ähnliche Jubelstimmung auslösen.
Aggregatzustände
Aber nicht, weil man nichts versteht. Alles ist schön und klar und klug. Zum Beispiel steht da: Jemand liebt
Sibirien, aber weil niemand weiß, dass er Sibirien liebt, liebt er Sibirien nicht, obwohl er Sibirien liebt.
Man ist so ... irritiert, wenn sich ein Buch erdreistet, etwas anders zu sein. Wenn man nicht weiß, was es sagen will. Der Autor weiß selbst nicht so genau, worum es geht.
Das macht unruhig.
Im Interview zählt er auf, worum es gehen könnte: um irrige Versuche, die Natur zu beherrschen; um Entkörperung; um die Aggregatzustände des Ichs.
Das macht noch unruhiger; und es ist nicht ein Buch – es sind fünf Bücher, Figuren springen hin und her als Verbindungsglieder eines Romans, der meist in Japan spielt. Man weiß nicht, wo anfangen. Das Ende ist nie ein Problem.
Gemmas an
Der Autor ist nicht beleidigt, wenn man sich nur da und dort etwas herauspickt ... er selbst lese meist in 50 Büchern parallel, und kein einziges Buch werde er bis zur letzten Seite lesen.
Gesucht werden von ihm immer und überall: Erkenntnis, Liebe und Schönheit.
„Am Weltrenrand ...“ ist übertrieben, ist gierig, größenwahnsinnig – aber es funktioniert wunderbar!
One two three four five / once I caught a fish alive ...
Gemmas an.
Start mit „Terrain vague“, das ist eine Erzählung. Ein junger Mann sucht seine Geliebte, eine Kimaforscherin. Sie ist urplötzlich verschwunden, er vermutet sie in Tokio, er erlebt dort Beben, Flut, Atomkatastrophe.
„cahiers“ sind die Notizhefte dieser Verschwundenen. Sie denkt an das Lendengrübchen über dem Po ihres Exfreundes, aber hat Wichtigeres zu tun – etwa: Die Gletscherleiche ihrer Ururgroßmutter wurde gefunden.
Die „Enzyklopädien eines Ichs“ sind ein Tagebuch, in dem diese Ururgroßmutter Ende des 19. Jahrhunderts Ordnung ins Leben brachte. Eine Rebellin, die als eine der ersten Europäerinnen einen Japaner heiratete und in dessen Land lebte.
Was machen wir jetzt mit „Akios Aufzeichnungen“? Ein Neunjähriger spricht seine Ängste ins Diktiergerät, ein Obdachloser, der Kernkraftwerke putzt, wird sein Freund.
Und „Die glückseligen Inseln“? Der Irrsinn in einem Comics von Weiss und der in Korneuburg geborenen Künstlerin Raffaela Schöbitz (drei Rufzeichen). Eine junge Frau leidet an schwerer Unwirklichkeit.
Fünf Bücher, fünf Mal sitzen die Menschen am
Weltenrand. Es sind Umbrüche im Gang bzw. Unglück ist geschehen. Die Menschen greifen nach drüben – in den Himmel, in die Zukunft (wie in der berühmten Illustration „Flammarions Holzstich“)..
Aber warum lachen sie? Die Menschen müssen verrückt sein! 1.) Ja. 2.) Vielleicht sind sie angesichts des Endes nur hysterisch.
Philipp Weiss: „Am Weltenrand
sitzen die Menschen und lachen“
Fünf Bände im Schuber. Suhrkamp
Verlag. 1200 Seiten. 49,40 Euro.
KURIER-Wertung: *****